Die 20 besten Compilations des Jahres 2023

01.12.2023
Compilations, eine Disziplin für sich. Stimmt die Auswahl? Stimmt das Sequenzing? Braucht es diese Sammlung überhaupt? Wir haben uns komplett durchgehört und 20 Mal ja gesagt.

Die Welt scheint mittlerweile unter Anthologisierungs-Müdigkeit zu leiden, und es ist ja auch verständlich. Unter den besten 20 Schallplatten aus dem Compilation-Segment finden sich zumindest in diesem Jahr in unserer Auswahl wenig Zusammenstellungen von Songs aus irgendwelchen kurzlebigen japanischen Subgenres. Stattdessen dominieren Compilations, die das Schaffen einzelner Künstler:innen und Gruppen dokumentieren. Und hin und wieder werden zwischen all diesen der Vergangenheit zugewandten Zusammenstellungen sogar die Sounds von frischen Talenten gebündelt.

Denn klar, Ausflüge in die Studios von Bollywood anno der 1980er-Jahre oder einen gefühlten Katzensprung weiter auf die ersten Goa-Raves müssen genauso sein wie eine neue Ausgabe der »Spiritual Jazz«-Reihe und ein massives Box-Set mit den ersten zehn Releases auf Brian Enos Label Obscure. Mal einen tieferschürfenden Blick auf das Werk von Akira Umeda, Arthur Russell, Les Abranis oder Workshop zu werfen, kann aber eben auch nicht schaden. Eine Zusammenstellung von Highlights aus dem überbordenden Output von Voice Actor sowie eine Compilation mit Stücken aus dem Umfeld von Brannten Schnüre sind dann auch der frische Wind, von dem es in Zukunft noch mehr brauchen wird.
Kristoffer Cornils


Ahl Nana
L'orchestre National Mauritanien
Radio Martiko • 2022 • ab 34.99€

Es gibt Planeten, auf denen lässt sich schlechter leben. Einer ohne Ali Farka Tourés Musik zum Beispiel. Dass es diese auf der Erde gibt, verdanken wir unter anderem Ah Nana. Das »Orchestre National Mauritanien« gilt als Wegbereiter für ›moderne‹ Musik aus der Sahel Zone, 1971 haben sie die Musik aufgenommen, die Radio Martiko hier zusammengetragen und zum ersten Mal veröffentlicht hat. Eine späte Verbeugung vor der bis dato weitestgehend unentdeckt gebliebenen Musik dieser Pioniere und deren historisch bedeutsamen Wüsten-Trance.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Akira Umeda
1988 2018
Lugar Alto • 2023 • ab 36.99€

Das Wahnsinnswerk eines Sammler-Brains, ein Rabbit Hole von Album: Akira Umedas »1988 2018« ist eine Out-Of-Body-Experience. Songs sind diese 42 Aufnahmen nur vorübergehend. Viel mehr ist das eine wilde Aneinanderreihung von Ambient, Cartoon-Flimmern, 1 Beat, Hinterhofküchen, Arcade-Halle, Porno und random ass Sprachaufnahmen. Eines der besten Bücher des Halbjahres.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Arthur Russell
Picture Of Bunny Rabbit (Code Only Faster: Crossing The Line From Vocal To Instrumental And Back)
Audika • 2023 • ab 35.99€

Mehr Musik aus der Zeit von Arthur Russells Klassiker »World of Echo«! Der Cellist und Avantgarde-Disco-Pionier ist auch in diesen Sessions ganz bei sich mit seinem Instrument, seiner Stimme und dem Echo, bei Bedarf gibt er Gitarre oder kaum als solche erkennbare Keyboards hinzu. Erneut lädt er so in seine sehr persönliche Welt ein, die zart, verzweifelt und schroff sein kann. Nicht in jeder Nummer singt er, muss er auch nicht. Die Aufnahmen sind weniger Experiment im Sinne von Ausprobieren als eine offene Suche. Bewegend ist alles davon.

Tim Caspar Boehme   Zur Review
Dream Dolphin
Gaia: Selected Ambient & Downtempo Works 1996-2003
Music From Memory • 2023 • ab 31.99€

Acht Jahre, 20 Alben: Das sind die Dimensionen, die die wichtigste Music-From-Memory-Veröffentlichung 2023 zu bändigen hat. Über die 18 Tracks der japanischen Künstlerin Dream Dolphin aka Noriko hinweg gelingt das vorzüglich. Wie nur wenige andere Compilations erzählt diese hier eine konsistente Geschichte, will sagen: Sie lässt sich hervorragend durchhören, so man denn zwei Stunden Zeit aufbringen kann. Egal, ob Ambient, New Age, Trip-Hop oder zaghafter Techno – die Fragilität, die Noriko ihrer Musik mit auf den Weg gibt, sie wohnt jedem dieser Stücke inne.

Maximilian Fritz   Zur Review
Hydroplane
Selected Songs 1997-2003
World Of Echo • 2023 • ab 39.99€

War irgendjemand mal in Melbourne? Seit Carla Dal Forno da wieder irgendwo in der Nähe wohnt und regelmäßig via NTS die beste Musik aus ihrer Heimat ausstrahlt, ist hier der Eindruck entstanden: Vielleicht ist Melbourne die angenehmste Stadt der Welt?! Nur abgemüdeter Indie-Pop scheint da herzukommen; komplett entmuskeltes Material; Musik, mit der sich so durch den Tag schlürfen lässt, und trotzdem sind die größten, wehmütigsten Emotionen auch da. Hydroplane sind ein Beispiel dafür. »Selected Songs 1997-2003« verschreiben Ärzte und Ärztinnen bei Bluthochdruck.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Kevin Drumm
Battering Rams
A Sunken Mall • 2023 • ab 24.99€

Kevin Drumm ist ein vollkommen undurchschaubarer Typ. Wer ihn auf Bandcamp abonniert hat, bekommt manchmal regelrechte Fluten neuer Releases in kurzen Intervallen serviert und muss dann wieder ein halbes Jahr bis zum nächsten warten. Es ist sehr chaotisch, weshalb gelegentliche Dokumentation inmitten dieses Release-Strategie-Durcheinanders bitter nötig ist. »Battering Rams« versammelt vier Stücke aus 22 Jahren Schaffenszeit, im Duktus handelt es sich – Labelheimat ist mit A Sunken Mall schließlich ein VAAGNER-Offshoot – eher um Ambient-Musik statt kreischigen Noise. Weitgehend ominös und düster im Ton, endet es doch auf wohligen und hoffnungsvollen Sounds.

Kristoffer Cornils
Les Abranis
Amazigh Freedom Rock 1973-1983
Bongo Joe • 2023 • ab 27.99€

Es war eine Sensation, als Bongo Joe 2018 zwei Stücke von Les Abranis neu auflegte. Damit ließ sich die Geschichte dieser Band jedoch noch nicht adäquat vermitteln. Sie setzt sich aus Mitgliedern der Berber-Ethnie der Kabylen zusammen, nach der Unabhängigkeitserklärung des algerischen Staates wurde sie ausgerechnet in Frankreich gegründet. »Amazigh Freedom Rock 1973-1983« dokumentiert die erste Iteration der hocheklektischen Gruppe. Die leichtfüßigen Grooves von Les Abranis sind gleichzeitig selbstbewusstes Statement einer unterdrückten Minderheit, wie sie von einer Zukunft zu erzählen scheinen, in der sich auf dem Dancefloor versöhnt wird.

Kristoffer Cornils   Zur Review
Najib Alhoush & The Free Music
Free Music Part 1
Habibi Funk • 2023 • ab 25.99€

Der Titel jagt Angst ein, das Cover nimmt sie einem direkt wieder: Habibi Funk hat für »Free Music Part 1« den vermutlich ersten Teil von Lieblingsliedern aus der expansiven Discographie von Najib Alhoush & The Free Music zusammengestellt: Libanesische Disco, treibende Bassläufe, funky Licks, und ein Gesang, der Weite schafft. Das Hemd knöpft sich hierzu von selbst auf, nur certified Tanz-Musik für die beste Bar der Stadt.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Workshop
1987-2004
Sonig • 2023 • ab 34.99€

Viel wurde über Workshop geschrieben, vielleicht. Aber sie werden noch immer zu wenig gehört. »1987-2004« ist eine weitere Gelegenheit das zu ändern. Eintauchen in die musikalische Welt der Kölner. Beginnend mit dem 15-minütigen Jam »Fabienne« von 1992 circa, ein programmatisches Stück, weil der Name Workshop eben auch Programm ist, und sich die Musiker Christoph Rath, Kai Althoff, Stefan Mohr und Stephan Abry die Musik ertasten, wobei Virtuosität auf Dilettantismus trifft, Neugierde und Ironie immer Zweifel immer siegen.

Sebastian Hinz
Voice Actor
Fake Sleep
STROOM 〰 • 2023 • ab 28.99€

In die Müdigkeit schleicht sich bei Voice Actor eine gewisse Grundnervosität, die dieser wahnsinnigen, gefühlt 900 Songs langen Digitalsammlung eine Klammer gab, die es beinahe unmöglich macht in klassischem Tonträgerformat die selbe uncanny Erfahrung zu machen. Dennoch: auch auf 16 Stücke verkürzt, ist »Fake Sleep« eines der Alben des Jahres. 

Florian Aigner
Various Artists
10
Music From Memory • 2023 • ab 33.99€

Jamie Tiller starb am 15. Oktober, knapp zwei Monate vor Erscheinen dieser Compilation auf dem von ihm vor zehn Jahren mitbegründeten Label Music From Memory. Kaum ein anderes Label diggte dermaßen tief. Es holte mit Dip In The Pool, Gigi Masin und Suzo Sáiz alte Held*innen wieder ins Rampenlicht und bot genauso aber einen jungen Generation – Philipp Otterbach, RAMZi und Yu Su – Raum zur Entfaltung an den Grenzen von Ambient, Fourth-Welt-Fantasien und dem Dancefloor. »10« bietet Beiträge von Label-Freund:innen, wunderbar überraschend ist ein Klassiker der Ströer-Brüder mit Howard Fine. Alle Abschiede fühlen sich ungenügend an, dieser hier war aber nie so gemeint.

Kristoffer Cornils   Zur Review
Various Artists
A Todas Las Imágenes Del Mundo: Antología Del Canto A Lo Divino
Mississippi • 2023 • ab 32.99€

Nach getaner Arbeit treffen sich die Bäuerinnen und Bauern im chilenischen Zentraltal, dem Valle Longitudinal, in überfüllten Räumen und singen den »Canto A Lo Divino«. Sie singen von der Apokalypse, vom Göttlichen, dem Übersinnlichen, aber auch von der Familie, den Tieren, der schlechten Ernte. Dazu spielt die Gitarre, oder die 25-saitige Guitarron, hypnotische Schleifen. Und die Bauern und Bäuerinnen singen und singen. Das war schon immer so. »A Todas Las Imágenes Del Mundo: Antología Del Canto A Lo Divino« versammelt zehn dieser Stücke. Keines davon wird dich unberührt lassen.

Sebastian Hinz
Various Artists
Awaaz: Original Soundtracks Recordings From The Archives Of CBS Gramophone Records & Tapes India 1982-1986
Naya Beat • 2023 • ab 38.99€

Lange Zeit war Bollywood die führende indische Filmindustrie – ja, es gibt mehrere, und ja, sie alle heißen irgendwas mit »-wood« am Ende – und damit auch immer der treibende Motor indischer Musikkultur. »​​Awaaz Series 1: Original Soundtracks Recordings From The Archives Of Cbs Gramophone Records & Tapes India 1982-1986« dokumentiert die irrsinnige stilistische Bandbreite der Musik für Filme aus Mumbai. Wunderbar schlonziger Funk, psychedelischer Disco, ein fucking »Rockit«-Cover und roughe Drummachine-Workouts – alles hier ist komplett surrealistisch, überfordernd, innovativ. Bollywood halt.

Kristoffer Cornils   Zur Review
Various Artists
Bleeps, Breaks + Bass
Musique Pour La Danse • 2023 • ab 34.99€

Musique Pour La Danse erweckt auf dieser Compilation über 18 Tracks hinweg Geschichte zum Leben. Wer wissen will, mit welchem Sound Rave sich im Vereinigten Königreich Anfang der Neunziger als alles bestimmende Jugendbewegung behauptete, hört sich durch »Bleeps, Breaks + Bass«. Dabei sind nicht nur bekannte Namen wie A Certain Ratio oder Unique 3, sondern auch Acts, die heute aus dem Dance-Music-Gedächtnis verschwunden sind und illustrieren, wie breit UK-Rave wirklich aufgestellt war.

Maximilian Fritz
Various Artists
Gespensterland
Bureau B • 2023 • ab 27.99€

Weirdes und dann auch noch Kontemporäres aus Deutschland, alleine deswegen kann man sich schon den Arsch abfreuen und in Bestenlisten einladen: Endlich mal nicht nach Belgien, nach Schweden schweifen müssen, um eine neue musikalische Erfahrung zu machen, endlich kommt aus diesem kalten Land mal wieder… Bureau B hat einer neuen deutschen Szene – die natürlich keine sein will – eine Comp gewidmet. »Gespensterland« riecht mit dem ersten Anschlag vertraut nach Reformhaus, Pfisters Mühle grüßt dunkel am Horizont, Urdeutsches wird hier als Chiffre herangezogen, überzeichnet und in schwer einzuordnenden Wave-Folk-Ambient eingepflegt.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Various Artists
Gonzo Goa: Party Music 87-94
Sound Migration • 2023 • ab 30.99€

Mit Gonzo Goa trippt man Palmen-beschattet seinen Weg zurück in die 1980er Jahre, wo man zwischen ein paar OG-Hippies und ausgelauschten Walkmans, auf die Ursprünge vom heutigen Psytrance trifft. Die paar tausend spiritual seekers, die es damals an die Strände Goas verschlagen hat, packten die Trommelmusik in ihre großen Travelbags und schupften sie angemischt mit etwas Techno, House oder Minimal wieder über Kassetten nach Europa. Was man auf »Gonzo Goa« hören kann, ist Goa-Musik nicht nur feinster Art, sondern erster Stunde.

Ania Gleich   Zur Review
Various Artists
Jura Soundsystem Presents Transmission Three
Isle Of Jura • 2023 • ab 34.99€

Kevin Griffiths macht noch Compilations als Arbeitsgeräte für DJs, mit Ambient-Tool und Soundeffekten zum Schluss. So zumindest auf der dritten Ausgabe der von ihm betreuten Serie »Transmission«, auf dem von ihm betriebenen Label Isle of Jura beziehungsweise unter seinem Pseudonym Jura Soundsystem. Schon der erste Track – »Lotus Position« von The Irresistible Force, ein Pseudonym von Mixmaster Morris – ist das alles wert, obendrein gibt es Dub in vielen Schattierungen, Café-del-Mar-Vibes, Panflöten-Sounds, luftige Breaks und … blökende Schafe.

Kristoffer Cornils   Zur Review
Various Artists
Searchlight Moonbeam
Efficient Space • 2023 • ab 23.99€

Das »Ballads«-Mixtape von Elaine Tierney und Jack Rollo genießt Legendstatus.
 »Searchlight Moonbeam« ist nicht nur Nachfolger dieser Compilation, sondern steht darüberhinaus in einer Linie mit der Über-Compilation »Sky Girl«, die ebenfalls auf Efficient Space erschien. Große Fußstapfen. Sie werden ausgefüllt. Und wie. Eine Offenbarung löst die nächste ab, Folk, Post-Punk, Klassik, alles eingetaucht in diese besonderen Time-Is-Away-Stimmung, dieser full on Sentimentalität. Wird mit jedem Hören noch besser, vielleicht braucht man keine andere Schallplatte mehr.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Various Artists
Spiritual Jazz Volume 14: Private
Jazzman • 2023 • ab 32.99€

Die Musik war in »Spiritual Jazz«-Reihe immer gut – und zuletzt neu. Nachdem sich das Jazzman-Label mit der Reihe einen Namen dafür gemacht hatte, alte Spiritual Jazz-Stücke neuaufzulegen und zusammenzustellen, widmete man sich zuletzt der Gegenwart. Nach zwei Jahren in ebendieser reicht’s nun auch, es wird wieder zurückgegangen. Die hier versammelten Stücke kommen alle aus den USA, aufgenommen haben die Interpreten sie zwischen 1964 und 1987, um sie dann aus eigener Kraft, ohne Label, selbst zu veröffentlichen. »Spiritual Jazz 14: PRIVATE« versammelt entsprechend das ganz rare Zeug aus Modal- und Spiritual Jazz.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Various Artists
The Complete Obscure Records Collection 75/78
Dialogo • 2023 • ab 360.99€

Sorry, aber: Brian Eno hatte seit Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten keine gute künstlerische Idee mehr, immerhin aber hat er noch ein paar geschäftliche Visionen. Das massive Box-Set »The Complete Obscure Records Collection« holt uns in eine Zeit zurück, in der es genau umgekehrt war: Die ersten zehn Katalognummern auf Obscure – darunter Enos »Discreet Music« und Harold Budds »Pavilion of Dreams« – sind alle mehr oder minder Meisterwerke, den Reibach wird er damit nicht gemacht haben. So ein Box-Set im Vorweihnachtsgeschäft rauszuholen, ist zwar irgendwie evil, aber diese Musik ist auch einfach komplett essenziell. Allein schon der ersten Gavin Bryars wegen das Preisschild wert.

Kristoffer Cornils