Cykada über das Schicksal der Menschen, sich nicht wohlfühlen zu können

Text Ben Lee
04.01.2024
Foto:© Karolina Wielocha (Astigmatic Records)
Die Londoner Jazzband Cykada kehrt mit ihrem kompromisslosen zweiten Album »Metamorphosis« zurück. Es reagiert auf die Kämpfe, die in der Welt stattfinden. Wir sprachen mit Jamie Benzies und Tim Doyle von Cykada darüber, wie die Botschaft eine tiefere, persönliche Reflexion ihres eigenen Lebens darstellt.

In Anlehnung an Franz Kafkas Roman, in dem sich ein Handelsvertreter in ein riesiges Insekt verwandelt, machen Cykada auf ihrem neuen Album ihre eigene Verwandlung durch. Sie wenden sich in ihrem neuen Album »Metamorphosis« gezielt den Veränderungen in der Gesellschaft zu.

Das Album feiert die Kultur der Soundsysteme mit dubbigen Grooves, kombiniert mit Jazzimprovisationen und rauem Rock. Es ist eine explosive Sammlung von Songs, die den Weg ihres selbstbetitelten Debüts von 2019 fortsetzt.

Mit Musikern verschiedener Bands wie Ezra Collective, Maisha, Levitation Orchestra, Zurito und Myriad Forest ähnelt die Musik wie schon bei ihrem Debüt einer kosmischen Reise, nur mit etwas mehr Schwung.

In »So Divided« geht es um die Illusion von Kontrolle und in »The Cracks in the Bricks« um eine Gesellschaft, die sich selbst verleugnet – geschrieben kurz vor der Covid-19-Pandemie, die mit fortschreitender Zeit an Relevanz gewann.

Anfang 2024 wird das Album in London offiziell live vorgestellt, bevor es auf Tournee geht. Wir sprachen mit Bassist und Sänger Jamie Benzies und Schlagzeuger Tim Doyle nach ihrem Auftritt beim EFG London Jazz Festival.


Wie war es, beim EFG London Jazz Festival aufzutreten?
Tim Doyle (TD):
Yeah, der Gig war unglaublich. Wir haben seit der Pandemie nicht mehr so viel gemeinsam als Band spielen können – offensichtlich wurde alles komplett auf den Kopf gestellt. Es war daher ein ganz besonderer Moment, um ehrlich zu sein, die Energie auf der Bühne war so gut.

Was hat sich seit dem ersten Album verändert, oder habt ihr das Gefühl, dass es eine natürliche Weiterentwicklung zum zweiten Album stattgefunden hat?
TD: Ich denke, die Intention hinter dem zweiten Album war viel stärker. Das erste Album war eine Art Feier des Moments und der Erfahrung, zusammen in einem Raum zu spielen. Bei der zweiten Platte hatten wir tiefergehende Visionen, was die Intention des Albums angeht. 

Ihr bezieht euch in eurem Album auf Kriege und den Klimawandel – inwieweit wurde das Album von diesen Themen bestimmt, bei denen man das Gefühl hat, die Gesellschaft würde zerfallen? 
Jamie Benzies (JB):
Das instrumentale Material ist von Natur aus recht abstrakt und man kann viele verschiedene Dinge daraus ableiten. Die Texte sind dagegen sehr konkret und beziehen sich auf Metamorphosen auf verschiedenen persönlichen und gesellschaftlichen Ebenen. In »So Divided« geht es ganz klar um eine Spaltung, aber die Abschottung der Gesellschaft ist auch die Abschottung des Selbst. Die fragmentierte Gesellschaft, in der wir alle diese persönlichen Kämpfe durchmachen, und die Art und Weise, wie wir darauf reagieren, wirkt sich auf eine breitere Ebene aus, in der wir alle miteinander verbunden sind.

Es ist ein Nachdenken über unsere auf Gewalt basierenden Grundlagen und darüber, dass sie ein Teil unseres Wesens ist. Es wird auf ganz unterschiedliche Weise auf uns zurückfallen, besonders wenn wir nicht in der Lage sind, ernsthaft darüber zu sprechen.

Jamie Benzies

»The Cracks in the Bricks« war ein lustiges Stück. Ich habe den Text zusammen mit Tilé geschrieben. Es geht um den unausgesprochenen Tod in den Dingen, »die Risse in den Ziegeln« und dieses Thema der Erschütterungen im Fundament, die es empfindlich oder brüchig machen. Das war zu einer Zeit, als viel über Orte und Locations wie die Colston Hall in Bristol gesprochen wurde, die von Sklavenarbeitern gebaut worden waren. Es ist ein Nachdenken über unsere auf Gewalt basierenden Grundlagen und darüber, dass sie ein Teil unseres Wesens ist. Es wird auf ganz unterschiedliche Weise auf uns zurückfallen, besonders wenn wir nicht in der Lage sind, ernsthaft darüber zu sprechen. Das Gleiche gilt für die Todesopfer und die Tatsache, dass wir uns nicht scheuen, diese Dinge anzusprechen und sie als das zu akzeptieren, was sie sind, damit wir gemeinsam zu etwas Positiverem übergehen können.

»The Cracks in the Bricks« wurde vor der Pandemie geschrieben – inwieweit war das eine Vorahnung dessen, was passieren würde?
TD:
Jamie prophezeit so viel! Ich hatte viel damit zu tun, die Platte zu produzieren, und jedes Mal, wenn ich die Songs hörte, wurden die Texte immer eindringlicher. Als ich mir ein paar Monate Auszeit nahm und zurückkam, dachte ich: »Wow, das passiert wirklich«. Der Text, von dem du sagtest, »die Krankheit rafft eine Nation dahin«, war eine Metapher, aber es ist passiert!

JB: Es ist die Krankheit der Menschen, sich nicht wohlzufühlen. Viele dieser Texte kann man von jeder Art von Konflikt oder Widerstand in der Welt übernehmen, und man wird feststellen, dass sie wahrscheinlich perfekt auf einen anderen Konflikt irgendwo anders zutreffen, wo Menschen einen ähnlichen Kampf haben.

Welchen persönlichen Herausforderungen seid ihr bei der Produktion dieses Albums begegnet?
TD:
Ich denke, es gibt so viele Herausforderungen in unserem Leben, dass es schwer ist, eine herauszugreifen, die sich in der Musik widerspiegelt, da sie alle präsent sind. Die Pandemie war wahrscheinlich die größte Belastung, mit der wir konfrontiert waren, weil jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht hat. All diese Dinge geschahen auf großer politischer Ebene, und sie drangen bis in unseren Alltag, in unsere tägliche Realität vor.Die Lebenshaltungskosten sind beschissen, die Jobsituation ist mies, die Musikindustrie ist ätzend – das lässt sich nicht leugnen.

JB: Wir haben uns mit einer Menge an Trauer auseinandergesetzt. Wir haben in den letzten Jahren viele enge Freunde und Familienangehörige verloren, und dieser Prozess steht im Zusammenhang mit der Idee in »The Cracks in the Bricks« über den unausgesprochenen Tod und was passiert, wenn man sich ihm stellt. Das ist eine Metamorphose, die ich persönlich durchgemacht habe.

Die Lebenshaltungskosten sind beschissen, die Jobsituation ist mies, die Musikindustrie ist ätzend – das lässt sich nicht leugnen.

Tim Doyle

Apropos Metamorphose: Wie sehr hat sich die Londoner Szene verändert, seit ihr vor zwölf Jahren angefangen habt?
TD:
Ich denke, es hat sich ziemlich viel verändert. Angefangen hat es mit ziemlich unscheinbaren Jam-Sessions und Gigs. Es gab eine Veranstaltungsreihe namens Steez, die ein wichtiger Ausgangspunkt für so ziemlich jeden war, der heute Teil dieser Szene ist. Dort haben wir uns alle kennengelernt und hatten unsere ersten Gigs. Wenn die Dinge wachsen und sich entwickeln, werden die Leute von den Trendsettern ausgewählt und gehen in eine bestimmte Richtung… andere Leute passen da nicht so ganz rein. Dann geht es weiter, keiner hat mehr Zeit. Man kann nicht mehr so viel zusammen sein. Zwangsläufig verändert und entwickelt sich das Ganze und wird etwas ganz anderes.

JB: Ich selbst, Timmy und unser Freund Silas veranstalteten einige Gigs, bei denen wir mit vielen Bands auftraten. Die meisten der Leute, die jetzt bei Cykada sind, waren auch da und spielten in verschiedenen Bands, und auch Nubya Garcia, Moses Boyd, Theon Cross spielten dort.

TD: Es handelte sich um eine Party in einem besetzten Lagerhaus, was immer noch mein Lieblingskontext für diese Art von Musik ist. Wir können bis 7 Uhr morgens weitermachen und unterliegen keinen Einschränkungen, so möchte ich in meinem Musikerleben existieren. Es ist das Schönste, weil es keinen Bullshit gibt, man kann einfach sein Ding machen.

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts

Britischer Jazz

Unter dem Themenschwerpunkt »British Jazz« fassen wir Beiträge zur Jazzmusik aus Großbritannien zusammen.

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