Wagemutige Voraussage: Die Verkaufszahlen für Kassetten im Jahr 2023 werden wieder angestiegen sein – von 2021 auf 2022 ging es allein in den USA satte 28 Prozent hoch – und den letzten Lacher wird Taylor Swift haben. Nur vielleicht nicht Fans des Tapes wie wir, die darin eben kein Nostalgieprodukt sehen, sondern das Medium mit und als Teil der Musik hören. Die sich die Dinger nicht oben aufs Kallax stellen, sondern sie in die Boombox oder den Walkman schieben. Seitdem die Vinylproduktion in den ersten zwei Jahren massiv gestört wurde und seitdem die Preise auch noch steigen, sind immer mehr Künstler:innen und Labels auf die gute alte Magnetbandspule umgestiegen, um planungssicher Tonträger produzieren zu können, die am Songtradr, äh, Bandcamp Friday zumindest ein bisschen mehr abwerfen als die paar hundert Streams.
Das ist verständlich, es hat aber ebenso unsinnige Konsequenzen und sie sehen genauso aus wie auf dem Markt für Vinyl: Es wird jede Menge Unsinn auf Tape gedubbt, das für dieses Medium überhaupt nicht geeignet ist, ob nun Hochglanz-Techno oder, na ja, Taylor Swifts und Jack Antonoffs Hi-Res-Produktionen. Und es führt die erhöhte Nachfrage wieder zu einem verknappten Angebot beziehungsweise zu Preissteigerungen, die sich mit der Inflation die Hand geben. 20 Euro für eine Kassette, die am Ende noch leiert, weil die Presswerke sie halbarschig durch die Produktion gehetzt haben, um schneller 5.000 Exemplare von »1989 (Taylor’s Version)« nachschieben zu können. Auch die folgenden 20 Kassetten sind keineswegs so preiswert, wie wir das von früher™ gewohnt sind, aber sie haben die HHV-Mag-interne Qualitätsprüfung bestanden.
Ambient, Dub-Rock, noch mehr Ambient und staubige Dance-Rhythmen, Shoegaze, wieder Ambient und zwischendurch noch bräsige Elektronik: Das hier ist (weitgehend zumindest) Musik, die im Tape-Format wirklich Sinn ergibt. Es war ein starkes Jahr an der Magnetbandfront.
Es war für Ayami Suzuki ein geschäftiges Jahr, fast ein halbes Dutzend neuer Releases hat die japanische Vokalistin veröffentlicht. Ihre gemeinsame Kollaboration mit Carlos Ferreira gehört allein deshalb zu den besondereren dieser Veröffentlichungen, weil sie über die Distanz entstanden ist und – darauf verweist der Titel »Umbilical« – dennoch sehr intim klingt. Der brasilianische Ambient-Musiker rollt ein Past-Inside-The-Present-gemäßes Klangbild aus und setzt auf angerauschte Texturen und große Gesten. Suzukis Stimme bewegt sich darüber mit einer Leichtigkeit, die den Sound endgültig zum Schweben bringt.
Kristoffer CornilsDass in dieser Kategorie jedes Jahr ein Tapeworm-Release zu finden ist, ist fix. Nur welches genau, darüber zerbrechen wir uns alljährlich den Kopf. Ben Glas kam uns dankenswerter zuvor und hat uns mit seinem »Anonymous Sextet for Perverted Piano« die Arbeit abgenommen und die letzten Synapsen zerschmettert. Was klingt wie die zwei bösen Zwillinge Lubomyr Melnyks im Duett mit Masonna, ist eigentlich ein Dialog zwischen einem Piano und einem Cembalo, die mit sechs in ihrem Innern platzierte, über Smartphones gesteuerte Vibratoren gespielt werden. Das ist die Beschreibung von, gleichzeitig aber ebenso der Grund für diese Nominierung. Sorry, aber: leider geil.
Kristoffer CornilsNein, das sind nicht die frühen Achtziger, ganz neu ist es indes nicht: »Boeotian Chants« versammelt Stücke, die audioplage – keine Ahnung, wer das ist – Mitte der Zehnerjahre zusammengeschustert. Wir erinnern uns: Lo-Fi auf allen Kanälen. »Boeotian Chants« wäre dereinst aber selbst für ein Opal-Tapes-Release noch zu ruppig und verrauscht gewesen, dahinter steckt definitiv jemand mit Vinyl-On-Demand-Abo: Industrial und Wave in ihren rohsten und bösesten Ausprägungen, Albtraum-Shit mit Suchtgarantie.
Kristoffer CornilsChewlie ist die Schwester von Chewbacca und der sehr gute Künstlerinnenname von Julia Häller, die aus der Schweiz kommt und Schweizerdeutsch spricht. Das klingt circa so: »As Projeckkkt isch wias Gfäs, won i mi muasickkkalisch usdrüackkke«. Kickt schon mal die FOMO, wenn die Untertitel fehlen, aber lässt sich in der Bruk’schen Übersetzung auf internationale Promomotion-Zunge runterrationalisieren: »Im Bereich der dublastigen Clubmusik sticht Chewlies Stimme zielstrebig und souverän hervor.«
Christoph BenkeserFriedlicher wurde es 2023 nicht mehr. Ja, wahrscheinlich ist »Varolii Patterns« die musikalische Antithese zum Weltgeschehen. Das hatte Duane Pitre freilich nicht kommen sehen. Denn die sechs Stücke sind bereits ein paar Jahre alt, sind bei der Arbeit an »Omniscient Voices« (2021) mit einem achtstimmigen Synthesizer eingespielte, in reiner Intonation gestimmter (was auch immer das heißt) letztlich nicht verwendete Aufnahmen, die Schicht für Schicht zur inneren Ruhe finden lassen. So wichtig in diesen Zeiten.
Sebastian Hinz Zur ReviewBreakbeats, aber langsam, runtergepitcht, slooooowed-doooooown – das war kein von Lean-abhängigen Yungendlichen erkorener Microtrend von ungefähr September 2013, sondern verortet sich als Archivarbeit in der dritten und vierten Ausgabe als Güteklasse N wie nachhaltig. Fracture aus London macht mit Astrophonica nämlich seit vielen Jahren ein gutes Label für Leute, die D’n’B mögen, aber Jungle dazu sagen. Dazu ballert er sich ab und zu die gesammelten Werke des Backkatalogs mit vier Packungen Neocitran rein, weil: billiger Rausch!
Christoph BenkeserEs gibt Bässe, die kraulen einem ein bisschen den Bauch. Und es gibt Bässe, bei denen man sich angackt und anspeibt, weil es nicht tiefer geht. Das ist – zugegeben – kein ausgesprochen schöner, wohl aber ein durchaus reinigender Gedanke, denn: Was raus muss, muss raus. Dafür steht Bass Music mit seinem Namen. Und dafür zahlen die Leute ja auch viel Geld. Für knackige Zwölfneunundneunzig ist man hingegen schon mit »Speaking Things« von Isabassi auf Super Hexagon dabei. Fehlen nur noch ungefähr 200 Subwoofer.
Christoph BenkeserLevon Vincent ist einfach der weirdeste aller Techno-Dudes, gleichzeitig komplett hängengeblieben und far out. Der Typ war in der Drag-Szene und der New Yorker Avantgarde unterwegs, hat die Genese von Hip-Hop aus der Nähe erlebt und das Berghain abgebrannt – wer würde nicht seine Memoiren lesen wollen? Jedenfalls: »Work in Progress«, schon wieder ein Tape, als Medium eigentlich völlig ungeeignet für seinen bleepigen Techno, der westliche Stimmkonventionen umtänzelt. Damit aber eben als Album genauso weird wie sein Macher – passt!
Kristoffer CornilsHinter Mantenna steht für die beiden Italiener Donato Dozzy und Stefano di Trapani die Idee der Begrenzung. Zwei Musiker treffen sich in einem Raum, nichts ist geprobt, die zur Verfügung stehenden Instrumente sind teilweise unbekannt, Fehler sind gewollt, allein schon, um den Gehirnwellengenerator am Laufen zu halten. Und die Kreativität natürlich. So geschehen am 24. Februar 2022, als im Klang Roma die Aufnahmen für das auf 100 Exemplare limitierte Tape »The Black Sphere« entstanden, dessen A-Seite eine Verbeugung vor der kosmischen Musik der Siebziger, während die B-Seite vor Pan Sonic und Monolake den Hut zieht.
Sebastian HinzDie Chancen stehen so fifty-fifty, dass man von diesen drei im besten Sinne zartbesaiteten Menschen schon mal gehört hat. Der eine unterhält in Leipzig eine gelötete Privatkapelle, die andere macht leider viel zu wenig Musik, der wiederum andere dafür schon seit circa immer. Zusammen aber haben sie das noch nie gemacht, deshalb: Tapedeck auf für »Interstitial«, die Premiere auf dem schönen Leipziger Projektdings Teleskop. Da stapeln alle ihre leisen Töne aufeinander und es wird ziemlich schön.
Christoph BenkeserDas Album »Tonkori in the Moonlight« war ein Highlight des letzten Jahres, in diesem war der an der Schnittstelle von Dub und Ainu-Tradition arbeitende Musiker OKI auch auf einem Reissue von Umeko Ando zu hören. Wer es nicht besser weiß, scheint deren Stimme gleich im ersten Stück von »Live at Café Oto« wiederzuerkennen, aber weit gefehlt. Sowieso wird weniger denn je auf tradierte Formeln und stattdessen auf psych-ey Full-Band-Sound gesetzt. Kurzum: Das ist Dub-Rock, ey, und er bockt ohne Ende.
Kristoffer CornilsAuf »On The Corner Of The Day« lässt Perila ihr gesamtes Können aufblitzen. Es sind acht Schlaglichter in die unausgeleuchteten Ecken eines Zuhauses, in die sich der Rauch der Räucherstäbchen verzieht, in denen der Gong nachhallt, wo der Staub knistert, die Holzdiele knarrt, sich die Spannung Tag für Tag für Tag niederlegt, schwer und leicht zugleich. Die »Vibration eines Gefühls« auf 33 Minuten Spielzeit.
Sebastian HinzHans-Peter (32) aus Recklinghausen wettet, dass er jedes der vier Alben des britischen Techno-Musikanten Pleasure Model auf seine materielle Beschaffenheit hin ertasten kann. Also: Schutzbrille drauf, alles dicht. Barbara Schöneberger traut dem Hans-Peter zu, dass er das kann. Und schon geht’s los mit dem ersten Album: »Multiplicative Gain«. Hans-Peter knetet fleißig rum, zögert, doch: »Könnte es sein, dass es sich dabei um 100 Prozent 100% Silk handelt?«
Christoph BenkeserWer beim ersten Wasserplätschervogelschrei nicht sofort die Augen verdreht und etwas sehr Cooles sagt wie, also das ist eine bekannte Trope, die kennt man vor allem aus Musikrichtungen wie dem Ambient, wird potenzielle Freude haben mit Plume Girl. Und dafür muss man in der Folge nicht mal die Räucherstäbchen ankokeln. Das eigentlich immer hervorragende Label mappa weiß nämlich: »In The End We Begin« und deshalb will man nach Hören derselbigen jetzt auch eine Autotune-Ambient-Pop-Platte machen.
Christoph BenkeserEs gab mal einen Film, da ging es um New York und die Nullerjahre und all die Gitarrenbands, die irgendwann nur noch Electro gemacht haben, weil das halt besser gegangen ist. Pons aus Brooklyn haben den eher nicht gesehen, weil man so ein Album wie »The Liquid Self« nur machen kann, wenn man von dieser Dance-Punk-Indie-Kiste so viel hält wie von der jährlichen Thermenwartung. So oder so das Beste, was New York seit dem Haarschnitt von Karen O zu bieten hat.
Christoph BenkeserKünstliche Intelligenz war dieses Jahr so ein Thema, das ich hier dystopisch weiterspinnen möchte, hin zu dem Moment, wo die Maschinen völlig autonom sind und in einem Augenblick des Überschwangs das Tanzen für sich entdecken und in ihren Datenbanken nach Musik suchen, die ihre geölten Scharniere zum Schwingen bringt. Und dann finden sie auf einem alten Server im heutigen Iran Temp-Illusion. »Failsafe« ist in ihren Schaltkreisen schon im Namen ein Qualitätsmerkmal, und so tanzen sie den Pogo der Cyberpunks (»Kikini Bamalam«), den Stehblues für verknallte Androiden (»Jane Plough«), jammen auf der brennenden Datenmülltonne (»Ray Bloody Purchase«). So muss es einfach kommen.
Sebastian Hinz-OUS bleibt die beste Adresse für den richtig weirden Schweizer Stuff und da Svetlana Maraš den richtigen weirden Stuff in der Schweiz sogar unterrichtet, passt hier alles zueinander. Wie die Aufnahmen entstanden sind, verrät der Titel »Live Performance 2019 - 2020« bereits zu genüge, musikalisch ist allerhand Sähkö-Geknusper, Valerio-Tricoli-Unwucht, Aaron-Dilloway-Weirdness und sogar ein bisschen Caterina-Barbieri-Pathos drin. Bei der nächsten CTM spielt Maraš dann schätzungsweise einfach jeden Abend, es wird schon allen taugen.
Kristoffer CornilsTape war das Bindemedium zwischen Tujiko Noriko und dem im Jahr 2021 überraschend verstorbenen Editions-Mego-Betreiber Peter Rehberg. Nachdem sie ihm eines einst als Demo in die Hand drückte, schrieb sie ihm mit »Crépuscules I & II« zuletzt ein monolithisches und doch fließendes Requiem für zwei Magnetbandspulen. Langsam geht es von Ambient-Pop aus Richtung ätherischer Abstraktion, besser wurde Trauerarbeit nur selten in Musik transformiert. Oder zumindest selten mit so wenigen Worten, sollten die Mount-Eerie-Ultras jetzt zu protestieren beginnen.
Kristoffer CornilsSag mal »Shoegaze« und erklär den Leuten, was das ist, was das mal war, ohne auch nur einen einzigen Bandnamen zu benutzen. Nein, nicht Lush, nicht My Bloody Valentine, nicht mal Slowdive oder Ride, davon erwähnst du nichts, das kann sich ja jede:r denken; und überhaupt: Die haben ihre besten Zeiten eh hinter sich. Wobei man schon auch sagen muss, die jungen Leute hören wieder Gitarrenmusik, das hat zumindest jemand in der Zeitung geschrieben. Deshalb gibt es auf einmal Alben wie das von Wishy, »Paradise«.
Christoph BenkeserTeil zwei der Reihe auf dem Elena Colombi-Label Osàre! Editions, das sich zu den dortigen FLINTA-Compilations verhält wie Ken zu Barbie: »The Male Body Will Be Next« ist weniger martialisch als sein Titel und bietet sehr, sehr viel: Sepehr, Posa Dia, Low End Activist und die Labelbetreiberin auf nur einem Tape sind allein schon Gold wert. Viel Industrial, Electronic Body (geddit?) Music, ein bisschen technoides Synthie-Geblubber – und das alles, weil die bell hooks gelesen haben? Auch schon wieder gut.
Kristoffer Cornils