Label Watch: Temporary Residence

23.11.2023
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist das relativ kleine Label Temporary Residence eine zuverlässige Quelle für sehr große Musik. Nach drei stressigen und unsicheren Jahren sind Gründer Jeremy deVine und sein Team aber bereit, eine Pause einzulegen.

Viel von der über Temporary Residence Limited veröffentlichte Musik vermag die Zeit anhalten. Sei es der elegische und doch hymnische Post-Rock von Label-Urgesteinen wie Explosions In The Sky und Mono oder die ätherische Ambient-Musik von Eluvium oder William Basinski: ein guter Teil des Katalogs ist als Einladung dazu zu verstehen, eine Pause vom Leben zu nehmen und sich eine andere Welt auszumalen. Es handelt sich aber um Rückzugsorte ohne Dauer, wie nicht allein der Label-Name ausdrückt. Je tiefer es in die umfangreiche Diskografie von Temporary Residence geht, desto mehr differenziert sich diese aus.

Die Musik von jüngeren Signings wie June McDoom und Nina Nastasia ist vergleichsweise bodenständiger, geht aber immer noch an und manchmal über die Grenzen des Machbaren hinaus. Während der Name des Labels seit Gründung 1996 für viele quasi zum Synonym für den Sound der zweiten Post-Rock-Welle geworden ist, bietet es weit mehr als das. Der rote Faden in alledem: Selbst wenn es sich in kleinen Gesten ergeht, fühlt sich all das immer sehr groß an.

Auf die Frage, wie das Team hinter dem Label entscheidet, wer welchen Kriterien zufolge unter Vertrag genommen wird, hat Gründer Jeremy deVine eine ziemlich einfache Antwort parat: »Genre, Musikstile und künstlerische Ansätze sind für uns irrelevant. Es muss uns einfach bewegen«, gibt er per E-Mail zu Protokoll. Bewegung – ob in emotionaler, stilistischer oder schlicht geografischer Hinsicht – ist sowieso seit jeher ein fester Teil der Identität des Labels.

Ursprünglich als Outlet für deVines eigene musikalische Projekte und die seines Freundeskreises in Louisville gegründet, operierte es zwischenzeitlich von verschiedenen Orten aus, bevor es sich schließlich in Brooklyn niederließ. In den Anfangsjahren unterstrichen die Titel von Compilation-Reihen und Serien wie »Sounds of the Geographically Challenged« und »Travels In Constants«, dass das Geschäft mit der Musik für das Label ein eher freies, um nicht zu sagen prekäres handelte. Wobei, was heißt das überhaupt, Geschäft? DeVine jedenfalls betont, dass Temporary Residence niemals als Firma konzipiert war: »Es war immer eher ein langfristiges, gemeinschaftliches Kunstprojekt, das nur eben in einer Branche tätig ist, die verlangt, dass es als solche behandelt wird – mit großem Widerwillen.«

Stilistisch ungebunden

Temporary Residence war in seinen Anfangsjahren nie an einen bestimmten Ort gebunden und wurde doch schnell zur fixen Anlaufstelle für hochwertige Musik. Zu den ersten Veröffentlichungen zählten Platten von Wino, deVines Gruppe Sonna und Bonnie »Prince« Billy sowie der deutschen Band Kammerflimmer Kollektief oder Cerberus Shoal und Tarentel, den beiden Projekten, die deVine zufolge erstmals ein internationales Publikum auf seine Arbeit aufmerksam machten. Obwohl Temporary Residence stets stiloffen geblieben ist, verhalfen dem Label seine Verbindungen Labels zur Post-Rock-Szene zu unerwarteter Popularität, als Bands wie Sigur Rós, Mogwai und Explosions In The Sky – die seit 2001 ohne Unterlass bei Temporary Residence unter Vertrag sind – plötzlich die Aufmerksamkeit des Mainstreams erlangten.

Vorher noch randständige Bands füllten auf einmal Stadien und schrieben die Soundtracks beliebter Fernsehsendungen und Filme. »Das war seltsam, weil es sich damals eigentlich so anfühlte, als hätte Post-Rock seinen Höhepunkt bereits Mitte bis Ende der Neunziger erreicht«, sagt deVine. »Als Sigur Rós und Explosions In The Sky im Mainstream ankamen, war das überraschend und verwirrend. Wir alle sahen darin einen vorübergehenden Trend, dem irgendwann die Rückkehr zum Stammpublikum folgen würde.«

»Als Sigur Rós und Explosions In The Sky im Mainstream ankamen, war das überraschend und verwirrend. Wir alle sahen darin einen vorübergehenden Trend, dem irgendwann die Rückkehr zum Stammpublikum folgen würde.«

Jeremy DeVine

Bis zum heutigen Tag richtet sich Temporary Residence an genau dieses Publikum und den internationalen Underground im Allgemeinen. Dieser nachhaltige Ansatz erstreckt sich auch auf die Beziehung zum eigenen Roster. Viele der Künstler:innen haben die meisten, wenn nicht sogar alle ihrer Alben über das Label veröffentlicht. »Unsere Beziehungen beruhen ausschließlich auf kreativer Zusammenarbeit und dem persönlichen Miteinander. Wir gehen keine dieser Beziehungen in der Erwartung ein, dass sie sofort beendet werden, wenn irgendwann der Kontostand mal nicht stimmt«, erklärt deVine und fügt scherzend hinzu: »Im selben Zug kann uns wirklich niemand vorwerfen, dass wir eine robuste oder irgendwie nachhaltige Geschäftsstrategie verfolgen.«

Er weist darauf hin, dass Temporary Residence fast das gesamte erste Jahrzehnt seines Bestehens über nicht profitabel war und dass die kleine Belegschaft – neben Jeremy deVine gehören dazu die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständige Anna Lopez, der mit dem physischen und digitalen Marketing sowie Vertrieb zuständige Tommy Cotter und Dan Goldin, der sich unter anderem um den Versand von Bestellungen kümmert – nach wie vor zu kämpfen hat.

Harte Jahre, Pause benötigt

Wie praktisch jedes andere Indie-Label hat auch Temporary Residence mit genau denselben Problemen zu kämpfen, mit denen selbstvertreibende und kleinere Künstler:innen konfrontiert sind: Streaming, so deVine, ist heutzutage »finanziell deutlich weniger lohnenswert« als Anfang und Mitte der Zehnerjahre und dient eher als »Werbemittel für Fans, die uns auf nachhaltigere Art und Weise wie durch den Kauf von Tonträgern und Downloads unterstützen wollen.« Vinyl bleibt wichtig für das Unternehmen, das nie ein Unternehmen sein wollte – doch die Produktion der üppig gestalteten Schallplatten hat einen höheren Preis als je zuvor, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

»Die Kombination aus den Auswirkungen der Pandemie auf Lieferketten und Transport mit außergewöhnlichen Verzögerungen und enormen Preissteigerungen in der Produktion haben uns in eine sehr schwierige finanzielle Lage gebracht«, räumt deVine ein. Während sich die Produktionsprobleme – Rückstände und logistische Probleme an praktisch allen Fronten – im Laufe der Zeit etwas verbessert hätten, sei die wirtschaftliche Lage nach wie vor desaströs.

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Mit Blick auf den erstaunlichen Label-Output in diesen Tagen mag ein solches Geständnis überraschen. Allein in diesem Jahr erschienen Wiederveröffentlichungen und Compilations von (Post-)Hardcore-Bands wie Falling Forward, Lincoln und Moss Icon sowie von Kieran Hebden alias Four Tets Bandprojekt Fridge und der instrumentalen Post-Psych-Rock-Gruppe Grails neben neuem Material von relativ jungen Projekten und Künstler:innen wie Party Dozen und June McDoom, während Temporary-Residence-Größen wie Eluvium und Explosions In The Sky jeweils eine triumphale Rückkehr feierten.

Eingedenk der konstant kleinen Dimensionen eines Labels für dermaßen große Musik, überrascht es allerdings nicht, wenn sein Gründer zugibt, dass das Team erschöpft ist. Auf die Frage, welche Pläne er für die Zukunft hegt, folgt dementsprechend die nächste simple Antwort: »Eine Pause einzulegen. Es ist eine sehr schwierige Zeit für uns, und die letzten drei Jahre waren die härtesten unseres Bestehens«, sagt er. »Hoffentlich ist die Welt noch da, wenn wir zurückkommen.« Es ist ihnen zu wünschen, dass sie eine andere sein wird.