»Chaos«. So nennt Hania Rani, die mit ruhiger Musik voller Leerstellen bekannt geworden ist, den Antrieb für ihren sich immer weiter entwickelten Sound. Fast ihr ganzes Leben hat die 33-Jährige schon Klavier gespielt: Von Danzig ausgehend, studierte Rani erst in Warschau, entdeckte aber mit ihrem Studium in Berlin schlussendlich den Zugang zur elektronischen Musik. Mit ihrem vorletzten Soloalbum »Home« präsentierte sich die Künstlerin schon teilweise singend, setzt aber jetzt noch einen drauf: »Ghosts«, das im Oktober auf Gondwana Records erscheint, zeigt Hania Rani nicht nur als vielseitige Sängerin, sondern taucht die Klaviermelodien auch in den Synthesizer. Schon ihre Single-Auskopplung »Hello« verwirrte einige, die die von ihr gewohnte Neoklassik erwarteten. Mit Features von Ólafur Arnalds, Duncan Bellamy und Patrick Watson, moduliert sich Rani in den Elektro-Himmel, den sie mit kleinen Pianoinseln durchsetzt. Eine beachtliche Entwicklung seit ihrem LP-Debüt 2019.
Dabei unterstreicht sie, dass ihr neuer Sound das Klavier nie ganz verdrängen wird. Ihr ebenso dieses Jahr erschienenes Album »On Giacometti« wird alle Diehard-Piano-Fans befriedigen: düster und melancholisch führt Rani dort durch die Schweizer Täler. »Ghosts« andererseits treibt einem den Geruch von Shownebel in die Nase: In den Schatten wird man von Euphorie durch die Nacht getragen. Dabei hebt die Musikerin die Ambivalenz ganz bewusst aufs Podest. Manches bleibt flüchtig, anderes wird ganz konkret.
Hallo Hania, danke für deine Zeit. Die Tage erscheint dein neues Album »Ghosts«. Wie ist es entstanden – und wer sind sie, diese Geister?
Ich bin seit 2016 unterwegs und habe an vielen Orten gelebt, gearbeitet und Musik aufgenommen. »Ghosts« ist ein gutes Beispiel für meine Art zu leben und auf die Realität zu reagieren. Man muss sich nur die Credits anschauen: verschiedene Orte, verschiedene Studios, verschiedene Tontechniker:innen. Ich habe sehr oft in abgelegenen Gegenden gearbeitet, irgendwo ein Studio gemietet und Sounds gesammelt. Die meisten Menschen erwarten, dass man eine Basis oder ein Zuhause hat. Aber ich fühle mich an vielen Orten zu Hause und habe aufgehört dagegen anzukämpfen. Es ist ein Merkmal und eine Kraft von mir geworden – und es hat meinen Sound geformt. Ja, und dann gibt es da noch die »Ghosts«: die Geister, Geschichten, Erinnerungen und flüchtigen Dinge in unserem Leben. Diese kleben das Gewebe unserer Realität erst zusammen.
»Ich denke, die wichtigsten Dinge, wie Tod, Liebe oder Wahrheit sind sehr ambivalent und es gibt keine eine Antwort. Kunst ist ein wundervoller Raum, um diese Themen zu reflektieren.«
Hania Rani
Kling melancholisch. Das Album hingegen viel weniger als seine Vorgänger…
In den letzten Jahren bin ich viel aufmerksamer geworden, meine Interessen im Leben, nicht nur in der Musik, genauer zu pointieren. Und wenn ich das sage, meine ich alle Aspekte des Lebens: Leben und Tod. Auf der einen Seite etwas sehr Dunkles, und sehr Schwieriges. Auf der anderen Seite alle Dinge, die spirituell, schön und künstlerisch in sich selbst sind. Also geht es nicht nur darum, ob man melancholisch oder glücklich ist. Ich glaube, alle Künstler:innen müssen ihre eigenen Schritte machen, um herauszufinden, welche Geschichten wirklich interessant für sie sind. Mit dieser Entscheidung entsteht Musik. Und dabei werden manche der Themen und Gefühle vielleicht ein bisschen mehr Härte, einen sehr viel dunkleren Sound oder vielleicht einfach generell eine andere Energie brauchen.
Ein Thema, für das du dich auf dem neuen Album entschieden hast, ist der Tod. Auf »Moana« singst du sehr direkt darüber.
Der Tod ist eine so gewöhnliche Sache, die jedem einmal passieren wird und gleichzeitig immer noch so ein Tabu! Menschen tendieren dazu, nicht über ihre Ängste diesbezüglich zu sprechen. Auch, was den Krieg betrifft, mit dem wir konfrontiert sind: Wie können wir ausdrücken, wie sehr verstört wir davon sind? Worte sind buchstäblich. Wenn ich singe, kann ich mich nicht hinter der Flüchtigkeit von Musik verstecken. Mit 33 fühle ich mich um einiges entspannter, was die Meinung anderer darüber betrifft oder ob meine Songs zu düster oder zu ernsthaft sind.
Ich denke, Menschen haben generell Angst davor, dass alles vergänglich ist. Und der Tod ist das Ultimatum davon.
Es hat auch viel mit dem Altern zu tun und damit, nicht mehr »wertvoll« zu sein. Das ist nicht gerade, was angesagt ist!
Viele Menschen haben keinen Platz für ambivalente Gefühle, weil wir nicht lernen, ambivalent zu denken.
Ich denke, die wichtigsten Dinge, wie Tod, Liebe oder Wahrheit sind sehr ambivalent und es gibt keine eine Antwort. Kunst ist ein wundervoller Raum, um diese Themen zu reflektieren und darüber zu recherchieren. Du hast die Möglichkeit, ein großes Maß an Abstraktion zu verwenden, und jeder wird die Dinge in seiner individuellen Weise interpretieren.
Wenn wir über verschiedene Enden sprechen, finden wir uns in einer Kultur, die uns nicht beibringt, diese Dinge zu ehren…
…oder überhaupt das Gefühl von Trauer zu erlauben! Das ist so eine unterdrückte Emotion! Du kannst dich in unserer Gesellschaft fast nicht traurig fühlen. Wenn deine Trauer mehr als zwei Wochen andauert, vermutet jeder, du seist depressiv. Aber vielleicht war das, was ich gerade erlebt habe, was ich gerade verloren habe, so bedeutend für mich, dass ich einfach meine Zeit der Trauer brauche, um den Verlust zu verstehen und darüber hinaus zu feiern, dass die Sache oder Person wirklich da war!
Es fühlt sich fast so an, als würden die Menschen mich in meiner Ungeduld unterstützen!
Hania Rani
Bei all dem klingt »Ghosts« aber nicht nach einer Bewegung nach innen, sondern sehr weit.
Das glaube ich auch. Wenn ich über Musik nachdenke, denke ich in Räumen. Sound passiert immer im Raum. Also abhängig davon, in welchem Raum du dich befindest oder auch in welchem imaginären Raum du arbeitest, macht einen Unterschied: Es hat immer den Aspekt, Grenzen für dich selbst zu schaffen, um darin arbeiten zu können. Das gibt mir sehr viel Klarheit darüber, was wo passiert. In »Ghosts« waren diese Räume um einiges größer. Vor allem bei »Hello«. Das Musikvideo dazu haben wir in einem riesigen Open Space in den französischen Alpen gedreht. Aber als ich den Song geschrieben habe, habe ich mir immer vorgestellt, dass es in einem riesigen, verlassenen Gebäude oder einer Stadt passiert, wo niemand ist. So, dass man immer nur das Echo hört, wenn man das Wort sagt.
Schafft die Musik in erster Linie den Raum, oder schafft der Raum die Musik?
Ich denke, es ist ein bisschen von beiden. Wenn ich in einen neuen Raum komme, erzählt mir der Sound viel über diesen Raum. Und ich folge eher diesen anfänglichen Ideen, als den Raum anzupassen. Ich bin nicht daran interessiert, die Studios, in denen ich arbeite, akustisch perfekt zu gestalten. Zunächst einmal gibt mir der Raum also schon sehr oft Ideen. Auf der anderen Seite, brauche ich immer imaginäre Räume, in denen die Musik passiert. Wenn ich live spiele, kann ich Menschen auch in einen anderen Raum bringen, egal wo sie gerade sind! Das wäre ein gutes Argument dafür, dass Musik tatsächlich Raum schaffen kann. Ich will den Übergang von etwas extrem Privaten zu etwas beinahe Fantastischen und Verzauberten lernen. Nicht nur von einem kleineren Raum zu einem größeren Raum. Sondern von etwas Weichem, ohne Kanten, zu etwas extrem Großen und Grenzenlosen. Das ist fast wie in seinem eigenen Schlafzimmer zu träumen! Du bist in einem konkreten, bekannten Raum, bis du deine Augen schließt und irgendwo komplett anders bist.
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Und hat sich das Publikum bislang mitnehmen lassen auf die neuen Räume, die »Ghosts« öffnet? Wie waren die Reaktionen?
Natürlich gibt es immer einige, die nur meine Klaviersound feiern, aber ganz ehrlich: Ich habe dieses Jahr ein ganzes Klavieralbum »On Giacometti« gemacht! Gleichzeitig ist mein Publikum daran gewöhnt, dass ich mich ständig verändere. An irgendeinem Punkt werde ich immer das Gefühl haben, dass ich mich weiterentwickeln muss. Meine Sensibilität ist mein Filter. Alles, was ich mache, ist demnach ein Filter der Realität durch Hania Rani. Und mein Publikum ist sehr aufgeschlossen. Manchmal mache ich Fehler und probiere einfach aus, wie ich erste Schritte in eine neue Richtung machen könnte. Ich erlaube mir selbst, »Chaos« zu sein, weil das meine beste Eigenschaft ist! Ich schätze es, dass ich keine Angst habe, nicht perfekt zu sein, und dass ich immer so aufgeregt bin, dass ich nicht warten kann. Es fühlt sich fast so an, als würden die Menschen mich in meiner Ungeduld unterstützen!