Andrea Belfi über neue Umgänge mit alten Formen

21.09.2023
Foto:© Roberto Brundo
Aufgewachsen mit Hardcore, erwachsen in die Neo-Klassik und dann wieder woanders hin, zwischen allen Genres: Andrea Belfi gehört zu den gefragtesten Schlagzeugern der Gegenwart. Wir haben ihn zum Interview getroffen.

Andrea Belfi nimmt einen Schluck von seinem Saft, schaut kurz nach unten, dann nach links, nimmt noch einen Schluck vom frischgepressten Orangensaft: »Ich glaube, wir haben als Drummer eine spezielle Art auf Musik zu schauen. Dieser Blick könnte derzeit gefragt sein.« Belfi musste kurz überlegen, die Frage war vermutlich auch nicht so leicht zu beantworten: Valentina Magaletti, Niklas Wandt, Kahil El’Zabar und Chris Corsano – allesamt Schlagzeuger:innen, die gerade in untergroundigen oder experimentelleren Kreisen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Nehmen Schlagzeuger:innen heute eine wichtigere Rolle in der Musik ein als früher?

Der Name Andrea Belfi hätte selbstverständlich genauso gut in diese Reihe gepasst, immerhin konnte sich der Veroneser Musiker in den letzten Jahren eine eigene Nische erschließen, die ihn sowohl an die Seite von Nils Frahm, von Radioheads Thom Yorke, aber auch von der Hardcore-Ikone Mike Watt brachte – worüber wir unser Gespräch in einem Café im Sankt Vith eröffnen sollten. Am Vorabend hat Belfi ein gefeiertes Solo-Set während des ostbelgischen Weekender Festivals gespielt, das ihn zwischen Synthesizer und Drum-Kit, sowie weiteren Percussioninstrumenten rumspazieren ließ. Ein überwältigendes Sound-Erlebnis, das bisweilen an die tribal-trommelnden Krach-Explorationen der frühen Fuck Buttons erinnerte.

Wahrscheinlich ist das sehr weit weg von den ersten Schritten, die er damals mit 14 in Verona machte, als er, eigentlich Skater, nebenher noch eine Band haben wollte. Autodidaktisch näherte sich der 1979 geborene, heute 44-Jährige, dem Schlagzeug, wurde dann Teil der italienischen Hardcore-Szene in den Neunzigern und landete über einige Umwege (und Kunststudien) in einer Musikszene zwischen Jazz, Improv, Experiment, Avantgarde und randständigem Pop – und nebenbei, im Zuge der »Anima«-Tour von Thom Yorke, auch auf den großen Bühnen. Er ist somit auch gleichzeitig einer der Proto-Typen des neuen Schlagwerkertums: Mit einem Fuß noch am Drum-Set, mit dem anderen aber die gesamte Musikwelt erobernd.


Wir haben uns schon einmal getroffen: 2013 hast du mit der Band Il Sogno Del Marinaio in dem Kölner Club Halt gemacht, in dem ich damals Booker war. Hinter dem Bandnamen verbarg sich ein Trio um Dich und die (Hardcore) Punk-Ikone Mike Watt (The Minutemen, Fire Hose, Stooges). Wie kam es zu diesem Zusammentreffen?
Im Jahr 2009 haben Watt und ich den Vorschlag des Gitarristen Stefano Pilia angenommen, dieses Trio zu gründen und einige Konzerte in Italien sowie eine Studioaufnahme zu machen. Auf diese Minitouren folgten zwei weitere lange Europatourneen, eine sehr lange US-Tour, zwei LPs und drei 7inches. Trotz des Alters- und Erfahrungsunterschieds zwischen uns und Mike schuf das starke musikalische und ethische Band einen großen Zusammenhalt, sowohl musikalisch als auch auf menschlicher Ebene.

Fangen wir doch einfach bei deinen musikalischen Anfängen an: Du hast als 14jähriger angefangen Drums zu spielen. Wie stark hat dich dein Umfeld unterstützt damals?
Ich habe ganz sicher meine komplette Nachbarschaft genervt. (lacht)

Wir sprechen über die Mittneunziger und als nächstes wurdest du dann Teil der italienischen Punk- und Hardcoreszene. In Deutschland ist Hardcore vor allen Dingen ein Thema, das nicht unbedingt in den Metropolen und Millionenstädten stattfand und stattfindet, sondern ist viel dezentraler. Wo wurde und wird in Italien gespielt?
In den neunziger Jahren war die Hardcore-Punk-Szene vor allem in Venetien und der Emilia Romagna (Padua, Modena, Treviso, Carpi) aktiv, aber auch in einigen anderen Orten wie Turin und Mailand. Es gab viele besetzte Häuser, kleine Festivals, bei denen sich alle kannten. Viele Fanzines, kleine Labels… eine Menge Bewegung und Energie. Nach fast einem Vierteljahrhundert treffe ich einige Leute, die sich zu dieser Szene hingezogen fühlten, und viele von ihnen haben Wege eingeschlagen, die mit der Musik und der Kunstwelt im Allgemeinen zu tun haben, nicht nur Karrieren, sondern sehr interessante künstlerische Wege.

Das Wichtige ist, dass man keine Gimmicks, keine Effekte nutzt, sondern sich auf den Sound fokussiert.

Andrea Belfi

Was waren das damals für Orte, an denen die Konzerte stattfanden? Waren das Konzert-Locations oder doch die klassischen besetzten Häuser?
Die Szene war sehr politisch und sehr links, folglich haben wir wirklich vor Allem in besetzten Häusern gespielt. Da hielt man sich auch auf. Die Städte, wie zum Beispiel meine Heimatstadt Verona, sind halt eher rechts und/oder katholisch – und dann gibt es die kleinen anarchistischen Inseln. Das besondere war, dass die Szenen nicht so abgeschlossen waren. Es trafen sich viele verschiedene Musiker*innen und tauschten sich aus, spielten zusammen. Das hat mich sehr geprägt.

War das alles DIY-Szene?
Ja, genau. Es spielten Punk-Bands, Noise, Emo … Ich weiß nicht, ob ich mir davon noch viel anhören würden, aber man war damals offen und…

…es hat dich darin bestätigt Sachen einfach auszuprobieren?
Ganz sicher. Und es gab Kontakt zu Bands, die mir dann den Zugang zu anderen Musiken eröffnete. Vor allen Dingen die Postrock-Band Gastr del Sol ist da zu nennen. Und über die beiden Musiker, David Grubbs und Jim O’Rourke, lernte ich dann wiederum andere Künstler kennen: Die Band Faust, John Zorn etc.

Du bist dann wiederum nicht an eine Musikhochschule gegangen, sondern nach Mailand an die Kunsthochschule.
Ich wolle unbedingt bei Alberto Garutti studieren. Damals einer der ganz wenigen Dozenten für kontemporäre Kunst.

Das ist noch vor der Zeit der »Sound Art« und »Intermedia Art«-Klassen. Was hast du da gemacht?
Ich habe vor allen Dingen Musik und Sound Art gemacht, aber nicht in einer speziellen Klasse dafür. Das ist richtig. Deswegen war es ja so wichtig bei Garutti zu studieren. Niemand sonst verstand mit diesen neuen Gattungen umzugehen.

Kommen wir zum heutigen Stand: Gestern hast du ein Konzert beim Weekender Festival in Sankt Vith gespielt. Es fällt mir ehrlich gesagt schwer, richtig einzuordnen, was du alles gemacht hast, was da zusammenkommt. Vielleicht bekommt man das ja über Deine Kooperationen aufgeschlüsselt – oder zumindest teilweise: Die Akkordfolgen und auch der Synth-Sound haben mich an Thom Yorkes Solo-Arbeiten erinnert und dann hat das alles eine gewisse Neue Meisterschaft-Opulenz , die man auch bei Nonkeen – Deinem Projekt mit Nils Frahm – hören konnte.
Das ist eine interessante Beobachtung. Ich glaube, das ist etwas, dass sich aus der DIY-Zeit herüber gerettet hat: Man versucht so individuell wie möglich zu sein. Und gleichzeitig hat man bestimmte Referenzen oder Anknüpfungspunkte im Kopf. Das kann man nicht voneinander trennen.

Zu den synthetischen Soundquellen spielst du aber Drums. Unter anderem deine eigene Version der Trimba, des Schlagwerk-Instruments, das von dem blinden Komponisten und Straßenmusiker Moondog erfunden wurde. Das fand ich ziemlich interessant, weil so klang es wie eine One-Man-Band, wie eine Person, die alleine als Trio auftritt.
Ja, schon. (zögert)

Aber du hast ein Problem mit dieser Beschreibung der One-Man-Band?
Ich finde die eigentlich okay. Solange ich nicht anfange zu singen, ist alles in Ordnung. (lacht) Das Wichtige ist, dass man keine Gimmicks, keine Effekte nutzt, sondern sich auf den Sound fokussiert.

Es gibt eine ganz italienische Sensibilität für den melancholischen Aspekt der Musik, eine gewissen Dramaturgie, die in Volks- und Popsongs sehr präsent ist, und ich denke, auch von einer gewissen Art von Hedonismus..

Andrea Belfi

Du trittst gleichzeitig gar nicht mit Deiner letzten Platte »Eternally Frozen«, die auf dem italienischen Label Maple Death Records erschien ist, auf. Warum?
Ehrlich gesagt, bin ich da noch nicht ganz. Ich arbeite gerade an der Umsetzung der Platte. Dadurch, dass für die Komposition, die auf »Eternally Frozen« gespielt wird, die Blechbläser eine so wichtige Rolle spielen, wollte ich nicht dazu übergehen, als Playback zu spielen. Ich werde demnächst aber ein »Eternally Frozen«-Konzert spielen. Dann nur mit einer Posaunistin.

Die Platte unterscheidet sich von deinen vorherigen Alben. Sie ist klassischer, romantischer bisweilen. Was waren eigentlich die Einflüsse zur LP, die ja nochmal neues Terrain für Dich erobert hat?
Für mich lag der Schwerpunkt auf der Bläserarbeit, die definitiv der Ausgangspunkt für alles war. Ich fühlte mich sehr vom Sound von Zinc & Copper angezogen, dem Trio, in dem Robin Hayward und Elena Kakaliagou, zwei der Musiker, die auf Eternally Frozen spielen, mitwirken. Ich hatte sie live mit Catherine Christer Hennix und dann auf Platte in Ellen Arkbro’s ›For Organ and Brass‹ spielen hören. Ich wurde auch von William Basinskis »Disintegration Loops« beeinflusst. Für mich gab es die lose Idee, dass die Musik von »Eternally Frozen« so etwas, wie die Originaltapes des Basinski-Projektes sein könnten.

Ich komme nochmal zurück zu dem einen Aspekt, den ich eben schon angesprochen habe: Man könnte schon den Eindruck gewinnen, dass es Dir um die »Neue Meisterschaft«, um neo-klassische Gesten gehen könnte …
Es gab eine Zeit, in der ich mit einigen Künstlern dieser Szene in Verbindung gebracht wurde, aber das hatte eher mit meiner Zusammenarbeit mit Nils Frahm in verschiedenen Projekten zu tun als mit einer rein musikalischen Angelegenheit. Was »Eternally Frozen« angeht, würde ich sagen, dass es vielleicht eine gewisse Verbindung gibt, aber meine Sensibilität bringt mich dazu, diese Platte von mir mehr mit vergangenen Hörerlebnissen zu assoziieren, wie zum Beispiel den 90er-Jahre-Platten der Band Rachel’s, und auch mehr mit Volksmusik als mit klassischer Musik.

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Ich will zum Ende einen Bogen zu Deiner Heimat Italien schlagen: Ich finde es interessant, dass der Kanon, der bei »Eternally Frozen« als Struktur eine ganz wichtige Rolle einnimmt, dass man diesen Kanon gerade bei Dir, aber auch bei Lorenzo Senni und Caterina Barbieri findet. Glaubst du, dass es da einen Zusammenhang gibt?
Ich habe da noch nie drüber nachgedacht. Aber die Antwort kann ja nur lauten: Es muss da einen Zusammenhang geben. Ich glaube, es gibt eine gewisse Sensibilität für diese alte Form.

Kommt die aus der Kirche und den dortigen Gesängen?
Vielleicht nicht direkt aus der Kirche, aber aus dem volkskulturellen Hintergrund Italiens. Meiner Meinung nach gibt es auch eine ganz italienische Sensibilität für den melancholischen Aspekt der Musik, etwas, das zum Beispiel von Morricones Musik kommt, für eine gewissen Dramaturgie, die in Volks- und Popsongs sehr präsent ist, und ich denke, auch von einer gewissen Art von Hedonismus.