Die 50 besten Schallplatten der ersten Jahreshälfte 2023

06.07.2023
An guter Musik kein Mangel. Hier sind sie: Die 50 bislang besten Platten des Jahres. Neues und Neuaufgelegtes. Jazz, Rave, HipHop. Von Janelle Monáes lustvoller Waterslide bis zu Hako Yamasakis lebensmüdem Reigen.

Gute Nachrichten für Menschen, die schlechte lieben: Es wurde in den letzten Jahren alles nur noch weirder. Und heißer, ja, heißer wurde es obendrein. Während aber alles den Bach heruntergeht, schwimmen andere den Strom hinauf. Europa zieht die Grenzen hoch, die Musikwelt reißt sie wieder ein. Irgendwo wird geputscht, anderswo Hierarchien komplett infrage gestellt. Wir könnten hier ewig fortfahren, belassen es für die Zwischenzeit hiermit: Solange uns die besten aller möglichen Welten aufzeigen kann, bleibt das Leben in der schlechtesten noch erträglich.

Die folgenden 50 Schallplatten stellen Alternativen zum Ist-Zustand vor. Einige von ihnen flüstern uns aus der Vergangenheit verschwörerisch zu, dass wir verpasste Chancen nachholen können. De La Soul (RIP Dave!) etwa erzählen von einer Welt, in der Hip-Hop den Materialismus überwindet. Vladislav Delay kündigte schon lange vor Wikileaks an, dass wir stets skeptisch bleiben müssen. Rico Totos elektronischer Gwo-ka gibt uns zu verstehen, dass Musik schon immer eine globale Angelegenheit war.

Es finden sich genauso aber auch zeitgenössische Widersacher:innen in dieser Liste. Diejenigen etwa, die wie Billy Woods & Kenny Segal oder MC Yallah das Rap-Game vom Leftfield aus neu vermessen. Die wie Fever Ray und Janelle Monáe heteronormativen Beziehungs-Bullshit zerflexen. Die das Rave-Ding entweder direkt vom Dancefloor aus zerlegen wie Nick Léon & DJ Python und Tzusing oder es gleich auf die Orgel übertragen wie Maxim Denuc. Die selbst einem vermeintlich toten Pferd wie dem Jazz noch die Sporen geben – ob noch mit dessen klassischen Mitteln wie Asher Gamedze oder doch in ganz anderer Form wie Echt!.

Es geht kurzum in diesen 50 Alben, 12inches und Reissues ziemlich durcheinander, aber endlich mal auf die gute Art und Weise. Kali Malone strebt in die Breite, Holy Tongue in die Tiefe. Hier kleine Gesten von Isolée, dort die ganz großen von Overmono. Pathos bei Daniel Blumberg, Understatement von De Ambassade. Lärm von 3Phaz, Klang als Stille bei Salenta & Topu. Und so weiter, und so fort. Das ist der Reichtum dieser Welt und der Menschen, die darin leben. Wir sollten uns das alle mit nach Hause und hinter die Ohren schreiben: So könnte, müsste es eigentlich sogar gehen.

Und solange hat sowieso Little Simz mit der verspäteten Vinyl-Auflage ihres letztjährigen Albums das beste Statement zum Status quo hingelegt: »NO THANK YOU«. All caps, forever. Kristoffer Cornils


3phaz
Ends Meet
Souk • 2023 • ab 22.99€

Die Musik von 3Phaz steppt bristolisch und ballert berlinerisch, kommt aber eigentlich aus Kairoer Mahraganat-Kontexten. »Ends Meet« ist dem eh schon überwältigenden Debüt aus dem Jahr 2020 das Album, auf dem der anonyme Produzent zur klanggewaltigen Synthese globaler Einflüsse und regionaler Couleur gefunden hat. Gleichermaßen roh und schroff wie ausgefeilt und smart machen diese sieben Tracks in kurzer Zeit viele Referenzrahmen auf und eröffnen überdies Perspektiven für die Zukunft: Kulturelle Differenzen werden darauf ebenso eingestampft wie der Unterschied zwischen Gestern und Heute.

Kristoffer Cornils
Akira Umeda
1988 2018
Lugar Alto • 2023 • ab 36.99€

Das Wahnsinnswerk eines Sammler-Brains, ein Rabbit Hole von Album: Akira Umedas »1988 2018« ist eine Out-Of-Body-Experience. Songs sind diese 42 Aufnahmen nur vorübergehend. Viel mehr ist das eine wilde Aneinanderreihung von Ambient, Cartoon-Flimmern, 1 Beat, Hinterhofküchen, Arcade-Halle, Porno und random ass Sprachaufnahmen. Eines der besten Bücher des Halbjahres.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Anthony Naples
Orbs
ANS • 2023 • ab 23.99€

Früher hätte man vermutlich »Hintergrundgedudel« dazu gesagt. Würde heute auch noch zutreffen. Doch man kann das, was Anthony Naples auf »orbs« mit elektronischem Gerät, Bass und viel Dub zubereitet, ebenso gut als kosmisch kluge Reduktion verstehen, eine Musik, die ihren entspannten Groove spirituell angeht, ohne heavy oder andächtig zu werden. Alles ganz zugewandt, ohne viel zu fordern. Gut, gefallen sollte einem die Sache schon. Dürfte aber nicht schwer sein. Eines der unauffälligsten großartigen Alben des Jahres bisher.

Tim Caspar Boehme   Zur Review
Asher Gamedze
Turbulence & Pulse
International Anthem • 2023 • ab 25.99€

Keine Bestenliste ohne International Anthem, das Chicagoer Label bleibt die Anlaufstelle für das Beste, was Jazz in der Gegenwart zu bieten hat. Asher Gamedzes zweites Album, »Turbulence And Pulse«, gehört da zweifelsohne dazu. Dieser spirituelle Jazz kommt spürbar aus Südafrika, der Staub ist hier einfach anders eingefärbt. Überragend dabei nicht nur Gamedzes Arbeit an den Trommeln, auch die anderen Musiker spielen in einer Liga mit den ganz Großen – göttlich zum Beispiel Buddy Wells am Saxophon.

Pippo Kuhzart
Bendik Giske
Bendik Giske
Smalltown Supersound • 2023 • ab 24.99€

Der eigene Körper spielt bei Bendik Giske und seinem zirkulärem Saxofonspiel seit jeher eine herausragende Rolle. Er erfordert vollen Einsatz, wenn das Sax mit einem kontinuierlichen Luftstrom zum Singen gebracht wird, das Kehlkopfmikrofon die Stimme belauscht, und an den Fingern zwei weitere Mikrofone das perkussive Schließen der Klappen hörbar macht. Mit seinem vierten Album kommt der norwegische Musiker und Performer nun vollends bei sich an. Wo er auf dem 2021er Album »Cracks« Räume geöffnet und beschritten hat, ist das schlicht »Bendik Giske« betitelte neue Werk hautnah. Es scheint um Giske zu oszillieren, verwebt sich mit seinem Körper, tritt in Kontakt, reflektiert sich selbst in all seinen Facetten und träumt von neuen Möglichkeiten.

Jens Pacholsky
billy woods & Kenny Segal
Maps
Backwoodz Studioz • 2023 • ab 43.99€

Die Welt hat es endlich begriffen, billy woods ist momentan der beste MC, den der US-Underground zu bieten hat. Erstaunlich, bei der Komplexität seiner Lyrics, lange gedauert hat es allemal. Auf »Aethiopes« hat er uns ins Zimbabwe seiner Kindheit mitgenommen, auf »Church« in die Zeit seiner Jugend, kurz bevor er Rapper wurde, und nun ist er auf »Maps« in der Gegenwart angekommen — oder nicht, weil er hier auf Tour ist, die Zeit an Flughäfen oder in überteuerten Ubers verbringt. Im dröhnenden Nebel von Kenny Segals Beats gehen ihm aber massig Lichter auf: »Poisoned everything we touched, withered and died // Burn it down with us inside.«

Pasqual Solaß   Zur Review
Brandee Younger
Brand New Life
Impulse • 2023 • ab 28.99€

Dorothy Ashby? Unbekannt? Macht nichts. Die Kompositionen der Harfenistin des Modern Jazz stellen gut die Hälfte des Programms, das ihre Kollegin Brandee Younger jetzt auf ihrem zweiten Album für Impulse! zusammengestellt hat. Macht neugierig auf Youngers Inspiration. Doch bevor man losrennt, um die alten Platten zu suchen, schadet es nicht, vorher die um R&B- und HipHop-Anteile ergänzte Version des Harfenjazz auf »Brand New Life« zu erkunden. Vor allem impressionistisch kann Younger auf wunderbare Weise – ohne einem ihre virtuosen Fertigkeiten um die Ohren zu hauen.

Tim Caspar Boehme   Zur Review
Caterina Barbieri
Myuthafoo
Light-Years • 2023 • ab 29.99€

Caterina Barbieri zündelt wieder mit ihren modularen Synths an den kosmischen Vibrationen, die uns allesamt durchdringen. Getreu ihrer zyklischen Kompositionspraxis, die auf ein improvisierendes Subtrahieren von Patterns und Permutationen aus dem synthetischen Klangkontinuum setzt, kehrt sie mit »Myuthafoo« zurück ins Jahr 2019 und schließt wieder an ihre Arbeiten aus dem Umfeld von »Ecstacic Computation« an. Der Track »Math of You« morpht zu »Myuthafoo«, »Sufyowirl« kristallisiert anagrammatisch zu »Swirls of You«, und Laser-Arpeggios schneiden die Luft in hauchdünne Scheibchen, die vor den Speakern heftig irisieren.

Pasqual Solaß   Zur Review
Daniel Blumberg
Gut
Mute • 2023 • ab 28.99€

Über drei Solo-Alben hinweg hat Daniel Blumberg viele kaputte Songs geschrieben, mit seinem vierten aber sein Songwriting an sich zerstört. »GUT« ist ein körperliches Album, auf dem Musik zum Fremdkörper wird. Blumberg singt zwar noch seine Refrains, während es im Hintergrund dröhnt und kracht. Doch klingt das fast pflichtschuldig – insbesondere dann, wenn er sich am Ende selbst daran erinnern, seinen eigentlichen Job zu machen: »Daniel, keep on singing!«. Ob er’s tun wird, wird sich mit der nächsten Platte zeigen. Solange bleibt »GUT« sein radikalstes Album.

Kristoffer Cornils
De Ambassade
The Fool
Optimo Music • 2023 • ab 25.99€

Pascal Pinkert hämmert gern auf Metallbleche und lässt den Synthesizer bis zum Anschlag pfeifen. Mit De Ambassade hat der niederländische Musiker und Produzent »The Fool« als Manifest unserer Zeit geschrieben: Im Taumel zwischen Weltuntergang und Eskapismus. Die Wurzeln in Amsterdams DIY-Szene grätscht Pinkert einmal wieder zwischen den Genres. Todernst und filmisch schön strotzt das Album vor Ambivalenzen: Mit Korsett und Harness gewappnet jauchzt man im düsteren Publikum, während die Band vom letzten Menschen erzählt.

Ania Gleich   Zur Review
De La Soul
Stakes Is High
Chrysalis • 1996 • ab 16.99€

2023 sollte das Jahr werden für De La Soul, denn ihr gesamter Backkatalog wurde endlich auf allen Streamingportalen verfügbar. Doch dann machte am 13. Februar die tragische Nachricht vom plötzlichen Tod von David »Trugoy the Dove« Jolicoeur die Runde und versetzte die gesamte HipHop-Familie in eine tiefe Schockstarre. So mutet es bittersüß an, wenn Daves Stimme im Stream oder auf Vinyl erklingt, denn auch alle De La Soul-Alben aus den 1990ern und frühen 2000ern wurden endlich wieder nachgepresst. Stellvertretend dafür haben wir »Stakes Is High« für unseren Rückblick ausgewählt, den insgeheimen Fan-Liebling aus dem Jahr 1996, dessen Titeltrack auch über 25 Jahre später aktueller denn je erscheint. #DaveForever

Benjamin Mächler
Doc Sleep
Birds (In My Mind Anyway)
Tartelet • 2023 • ab 21.99€

Tartelet legte in der ersten Jahreshälfte anscheinend endgültig den Pivot in Richtung schwelgerischer Electronica hin und … Ja, das ist schwer in Ordnung so. Neben Glenn Astros Fake-Mixtape »Nothing Is Real« war es vor allem »Birds (In My Mind Anyway)« von Doc Sleep, das hängen blieb. Ihr verspätetes Debüt bedeutete für die Jacktone-Mitbegründerin zugleich einen Neuanfang, weil sie ihren eigenen Sound nochmal von Grund auf neu konstruiert. Und damit vielleicht zu ihrer ultimativen Klangsprache gefunden hat: warm, wohlig, weich – und trotzdem eigenwillig.

Kristoffer Cornils
Echt!
Sink-Along
Sdban Ultra • 2023 • ab 27.99€

Wer Childish Gambino covert oder Aphex Twin, von mir aus auch J Dilla oder Dorian Concept, der hat das Herz am richtigen Fleck. Also echt!, die Brüsseler Bubenband, ein Jazzvierer mit Hau für elektronischen Kram neben der Unz-Unz-Unzerei, hat sich irgendwann trotzdem gedacht: Jetzt mal was Eigenes. Oder: Alles glänzt. Zumindest: So schön neu! »Sink-Along« ist die zweite Platte, die der belgische Querschnitt zwischen Berghain und Birdland rausbringt. Sie ist sehr gut. So wie alles auf Sdban Ultra sehr gut ist. Also ja. Sehr gut!

Christoph Benkeser   Zur Review
Egisto Macchi
Asia
Cinedelic / Soave • 2023 • ab 23.99€

Egisto Macci kennt man wohl am ehesten als Mitglied der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza, auf deren Konto beispielsweise das legendäre Album »The Feed-back« geht. Solo hat der 2022 verstorbene Musiker Dutzende Spielfilme und aberhunderte TV-Dokus und -Shows vertont. 1979 unternahm er – zumindest musikalisch – eine Asienreise. Die schlicht »Asia« getaufte LP erfuhr allerdings nie ein Vinyl-Release – bis Cinedelic sie in diesem Jahr auf Platte herausbrachte. Bestimmt erzählt nun so mancher etwas von Aneignung. Vielmehr ist »Asia« jedoch eine Verbeugung: Macci setzt auf Flöten, Marimbas, Celestas und viele weitere Instrumente, die Richtung Indien, Japan oder Korea weisen – und webt daraus hypnotische, flirrende, von zittriger Percussion durchzogene Instrumentalstücke, die Pauschaltouristen aufschrecken lassen und eher den Spirit eines Sandalenfilms als den einer Teezeremonie beschwören.

Christian Neubert
Fever Ray
Radical Romantics
Rabid • 2023 • ab 34.99€

Unter Berücksichtigung von Dean Blunts anhaltendem Fokus auf low key Gitarren-Songwriting ist Fever Ray vielleicht die wichtigste verbliebene Säule der 10er, die nicht nur jeden elektronischen Mikrotrend aufsaugt, sondern pointiert in Avant-Pop-Kontexte übersetzt. »Radical Romantics« ist nicht mehr so explizit horny wie der Vorgänger, aber schwitzt sich nach sehr Knife-igem Auftakt durch jede menschliche Emotion, inklusive einer Parent-Revenge-Fantasie, die es in ihrer Deutlichkeit wirklich in sich hat. Visionär, wie immer.  

Florian Aigner   Zur Review
Florian T M Zeisig
You Look So Serious I + II
Embossed • 2023 • ab 41.99€

Für »You Look So Serious« hat Florian TM Zeisig ein Enya-Album basinskit und ja, das liest sich auf dem Papier respektive Screen nach der bescheuertsten Idee seit dem Shitty-Flute-Hype von anno dazumal. Es klingt allerdings auch genauso, wie so ein durchgenudeltes New-Age-Vocal-Tape von 1988 eben wohl zwangsläufig klingen muss, wenn es auseinandergenommen und neu zusammengesetzt wird. Nach schöner Trauer à la Grouper oder Leyland James Kirby, nostalgisch nach Hauntology und high auf Zukunftsvisionen, die niemals eingetreten sind. Wunderbar also.

Kristoffer Cornils
Hako Yamasaki
Tsunawatari
WRWTFWW • 1976 • ab 30.99€

»Tsunawatari«, Japanisch für: der Drahtseilakt. Mit ihrem tieftraurigen Folk balanciert Hako Yamaski auf dem schmalen Grat zwischen Selbstzerstörung und Nabelschau. Doch souverän hält die 19-jährige das Gleichgewicht. Yamasaki tänzelt zwischen emotionaler Expression und formaler Reduktion, jongliert mit Psycheledia, Jazz und Soft Rock. Ihre Show ist noch nicht zu Ende, schon möchte man sich die Schwester-Performance »Tobimasu« geben. Warnung: Yamasakis lebensmüder Reigen kann einem den Atem rauben.

Michael Zangerl   Zur Review
Headache
The Head hurts but the Heart knows the Truth
PLZ Make It Ruins • 2023 •

Die Nadel willkürlich auf die Platte gelegt: »There is so much shit in the world, is good, bad, mad, sad, ugly, happy, but I just love beauty«. Ich überlege kurz, die Rezension an dieser Stelle für geschrieben zu erklären. Eigentlich ist alles gesagt. Nicht nur über die Musik, auch über die Gegenwart, irgendwie auch über mich. Schon gruselt's mich so angenehm. Hinter »The Head Hurts but the Heart Knows the Truth« steht eine Person, die sich selbst Headache nennt. Herkunft, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Aussehen, Überzeugungen: unbekannt. Vegyn von PLZ Make It Ruins hängt mit drin. Das erklärt es zumindest ein bisschen. Die Musik stammt direkt aus dem Jahr 1999, Mo' Wax, Boards Of Canada, Air. Im Hintergrund ein Bewusstseinsstrom, verpackt in griffige Slogans, die man an Wände sprühen, auf bleiche Haut tätowieren oder ins Jahrbuch schreiben möchte. Ich bin mir sicher, dass mir jeden Moment ein Typ erklären wird, dass ich mir Sonnencreme auftragen soll. Aber der Moment kommt nicht. Stattdessen: »Make some noise right now for the voices in your head«.

Sebastian Hinz
Holy Tongue
Deliverance And Spiritual Warfare
Amidah • 2023 • ab 21.99€

Al Wooton und Valentina Magaletti arbeiten als Holy Tongue im Akkordtempo weiter und schieben nach drei fantastischen EPs direkt noch ein inspiriertes Album hinter. »Deliverance And Spiritual Warfare« klingt nicht nur im Titel wie ein kämpferischer Stepper, Dub zieht sich in allen Formen der letzten fünf Jahrzehnte als roter Faden durch ein trotzdem sehr kontemporär klingendes Album. Bemerkenswert ist hier vor allem auch wie stringent das alles ist, ESG-Fun steht gleichberechtigt neben Basic Channel-Seriosität und traditioneller Echo Chamber-Madness.

Florian Aigner
Honour
Hbk Vol.2: Everytin Na Double
All The Rest Have Died • 2023 • ab 29.99€

Ob Dean Blunt Teil von Honour ist oder nicht, ist immer noch nicht final geklärt, es wäre aber der finale Ritterschlag. Nach dem hier ebenfalls schon hysterisch besprochenen ersten Teil, ist mittlerweile auch der zweite Teil von »Hbk« auf Vinyl erschienen, eine Ambient-Trap-Sonate mit halluzinatorischen Vocal-Beiträgen, aufgekratzten Triplets und Just Blaze-Bläsern. Album des Jahres, möglicherweise.

Florian Aigner
Isolée
Resort Island
Resort Island • 2023 • ab 24.99€

Isolée ist das Gegenteil von nervigen Marktschreieren. Er ist ein Flüsterer, ein Mann, der lieber mal zu wenig als zu viel sagt. Frei nach Rupert Murdoch bleibt trotzdem immer was hängen. Man muss halt dranbleiben. Isolée bleibt seit gefühlten 1000 Jahren dran. All seine Platten auf Playhouse, Mule, Pampa und so weiter kann man gar nicht mehr in einem Regal unterbringen. Die Alben schon. »Resort Island« ist sein viertes. Es nimmt den nächsten Trend nach dem letzten vorweg, das heißt: Es ist eigentlich alles wunderbar. Und das muss man auch erst mal schaffen.

Christoph Benkeser   Zur Review
Janelle Monae
The Age Of Pleasure
Atlantic • 2023 • ab 38.99€

Janelle Monáe läutete den Pride-Month ein: »The Age of Pleasure« ist feucht, wild und glitschig. Während die Amerikanerin zuvor noch mit Androiden geschnapst hat, kommt sie jetzt auf den Boden der Tatsachen: und die sind fine as fuck. Dabei floated man von einem Höhepunkt zum nächsten, und weiß am Ende nicht mehr so recht, seit wann man ausgezogen ist. Das Album nimmt sein Credo ernst und wird zur queeren Sex-Positive-Party. Nach heißen zweiunddreißig Minuten möchte man dann nur mehr auf Monáes Waterslide.

Ania Gleich   Zur Review
Japan Blues
Japan Blues Meets The Dengie Hundred
DDS • 2023 • ab 31.99€

Das erste Japan Blues-Album beschäftigt mich bis heute, jeder einzelne Hördurchgang ist anders. Nach achtmal »Meets The Dengie Hundred« ist klar: auch Album Nummer Zwei wird unfassbar bleiben, wortwörtlich. Insbesondere die 20-minütige B-Seite klingt wie nichts, was ich je gehört habe und das, obwohl die einzelnen Elemente eigentlich klar zuzuordnen sind. Jahrzehntbestenlistenshit, wahrscheinlich.  

Florian Aigner
Joanne Robertson
Blue Car
AD93 • 2023 • ab 23.99€

Über AD93 erschien wieder eine dieser bescheidenen Skizzen-Sammlungen von Joanne Robertson. »Blue Car« ist wenig mehr als Stimme und Gitarre und entwaffnend transparent. Wer zwischen Grouper, Maxine Funke und Jonnine noch Platz im Regal hat, weiß was zu tun ist. 

Florian Aigner
Joseba Agirrezabalaga & Mikel Vega
Lepok
Urpa I Musell • 2023 • ab 20.24€

Improvisationen mit Gitarren und Effektgeräten aus dem Baskenland: Die Freunde Joseba Agirrezabalaga & Mikel Vega spielen sich auf »Lepok« von Drones ins Fingerpicking und zurück, und schaffen dabei, irgendwie, einen Grundvibe aus Post-Rock und Blues. Die Erde liegt trocken unter der Sonne auf diesem hier, die Dissonanz ist ebenso groß wie die Harmonie, es dürstet einem nach Bier in einer gottverlassenen Gegend.

Pippo Kuhzart
Josiah Steinbrick
For Anyone That Knows You
Unseen Worlds • 2023 • ab 26.99€

Josiah Steinbrick legte drei Jahre nach dem hervorragenden »Liquid« ein neues Album vor. »For Anyone That Knows You« besteht zum Großteil rein aus Klavier und mehr braucht es ja oft nicht, um beißende Wehmut auszudrücken, vorüberziehende Stunden, unwiederbringliche Momente. Hier und da taucht noch das Gott-Instrument Saxophon auf, spätestens dann ist »For Anyone That Knows You« eines der schönsten Alben des Halbjahres.

Pippo Kuhzart
Kali Malone with Stephen O'Malley & Lucy Railton
Does Spring Hide Its Joy
Ideologic Organ • 2023 • ab 47.99€

Dir fehlt die Muße für neue Platten? Kali Malone, Stephen O’Malley und Lucy Railton machen keine Zugeständnisse an die Hörgewohnheiten einer gehetzten Gesellschaft. Die Texturen von »Does Spring Hide Its Joy?« verändern sich so langsam wie das Licht der Sonne. Ich brauchte Monate, um mich in den meteorologischen Bewegungen dieses dreistündigen Drone-Monolithen einzufinden. Sein offenes Geheimnis: Freude heißt, die Zeit zu vergessen. Dein Chef wird dieses Album hassen!

Michael Zangerl   Zur Review
Kelela
Raven
Warp • 2023 • ab 36.99€

Wie man seinen Sound systematisch clubavantiger macht und dennoch den eigenen Kernkompetenzen treu bleibt, zeigt hingegen Kelela auf »Raven«, der snobbistischen Alternative zum letzten Beyoncé-Album. »Raven« geht noch mehrere Schritte weiter als »Renaissance«, verlässt sich produktionstechnisch nicht nur auf die Club-Visionen von LSDXOXO oder Nguzunguzu, sondern räumt der spukigen Hauntology von OCA auf einem vor ideenplatzenden Album gleich mehrfach prominent Platz ein. Viel besser kann man R&B 2023 nicht ausdefinieren.  

Florian Aigner   Zur Review
Kenny Wheeler
Gnu High
ECM • 1975 • ab 38.99€

Keith Jarrett, Dave Holland und Jack DeJohnette im Rücken zu haben, kann definitiv nicht schaden, es ist aber auch nur die halbe Miete. Die andere ist es, sich Zeit zu nehmen und die Trompete ihr Ding machen zu lassen. Nur drei Stücke sehr unterschiedlicher Länge sind auf »Gnu High«, im Jahr 1975 über ECM erstveröffentlicht, enthalten. Die vier Musiker lassen einander dementsprechend Raum, spielen einander respekt- und liebevoll die Bälle zu und insgesamt auf Zeit. Kenny Wheeler führt sie, aber als Leader, der selbst eigentlich nur seinem Instrument und dessen Möglichkeiten folgt.

Kristoffer Cornils   Zur Review
Little Simz
NO THANK YOU
Forever Living Originals • 2023 • ab 32.99€

Nein Danke, sagt Little Simz und die Menge jubelt. Es gibt zwei Dinge die die gerade mal achtundzwanzigjährige Britin besonders gut kann: Rappen und mit Dingen abrechnen. Aber anders als im Rap häufig passiert, disst die Musikerin nicht wahllos dahin. Während Simz noch mit ihrer Tour zu dem Vorgänger »I Might Be Introvert« durch Europa düst, schießt die Sängerin direkt ein weiteres Album nach. »No Thank You« ist Abschied, Konfrontation und Reset. Niemals hat jemand schöner Grenzen gesetzt.

Ania Gleich   Zur Review
Maxime Denuc
Nachthorn
Vlek • 2022 • ab 20.99€

Gimmicky, aber undeniable ist derweil Maxime Denucs Formel für »Nachthorn«. Trance- und Rave-Melodien via Pfeifenorgel, Barker via Kali Malone, eine Idee so einfach wie gefährlich. Denuc schafft es fast durchgängig die käsigen Ibiza-Harmonien mit einer staatsmännischen Gravitas so einzufangen, dass »Nachthorn« nicht wie ein kalkulierter TikTok-Stunt wirkt, obwohl hier konzeptionell so viel Metamüll herumliegt, dass das eigentlich alles so krachend scheitern sollte wie »Everything Everywhere All At Once«.  

Florian Aigner
Mc Yallah
Yallah Beibe
Hakuna Kulala • 2023 • ab 24.99€

Rapmäßig ist auf physischen Tonträgern wieder wenig passiert, was mich tangiert hätte, aber »Yallah Beibe« böllert nicht nur auf Grund der manischen Produktionsarbeit von Debmaster, Scotch Rolex und ChrisMan, sondern lebt gleichermaßen von der atemlos-durchexerzierten Flow-Konjugation von MC Yallah selbst. Als hätten »Boy In Da Corner« und »Fantastic Damage« sich damals ein Hotelzimmer genommen.

Florian Aigner   Zur Review
Movietone
Movietone
World Of Echo • 2023 • ab 24.99€

Post-Rock von 1995 aus Bristol, jetzt endlich auf deluxer Doppel-LP neu erschienen, und absolut essentiell. Movietones selbstbetiteltes Debüt besitzt die hinreißende Abgepisstheit von Algebra Suicide, eine Müdigkeit, eine Whateverness, die es so, Stand heute, irgendwie nicht mehr gibt. Zum Singen fehlt die Kraft, und dafür, dass es sich lohnen würde aufzuwachen, hat es zu viel geregnet. Große Coolness mit universeller Traurigkeit und vereinzelnden Noise-Passagen, ach England, wo bist du hin?

Pippo Kuhzart
Najib Alhoush & The Free Music
Free Music Part 1
Habibi Funk • 2023 • ab 25.99€

Der Titel jagt Angst ein, das Cover nimmt sie einem direkt wieder: Habibi Funk hat für »Free Music Part 1« den vermutlich ersten Teil von Lieblingsliedern aus der expansiven Discographie von Najib Alhoush & The Free Music zusammengestellt: Libanesische Disco, treibende Bassläufe, funky Licks, und ein Gesang, der Weite schafft. Das Hemd knöpft sich hierzu von selbst auf, nur certified Tanz-Musik für die beste Bar der Stadt.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Nick León X DJ Python
Split EP
Worldwide Unlimited • 2023 • ab 19.99€

Mit Nick Léon, der sich letztes Jahr durch seinen Überhit »Xtasis« endgültig auf die Dance-Music-Landkarte schob, und DJ Python, dessen Liste an Großtaten die Kapazitäten dieses Textes sprengen würde, teilen sich zwei Producer mit »Split« eine EP, die sich abseits des Four-to-the-Floor-Schemas verorten. Das Gipfeltreffen glückt auf ganzer Linie: Léon bringt auf den ersten beiden Stücken seine aufgekratzten Drumrolls durch, DJ Python kontert diese auf »I’m Tired« mit psychotischem Hi-Hat-Gewitter und angsteinflößenden Synths.

Maximilian Fritz
Operating Theatre
Spring Is Coming With A Strawberry In The Mouth / Rapid Eye Movements
Allchival • 1979 / 1981 • ab 28.99€

Operating Theatre ist eine heute fast vergessene Performance-Gruppe um den irischen Exzentriker Roger Doyle. Auf dem All City-Sublabel Allchival erschien in diesem Jahr eine Veröffentlichung, die die Einzelalben »Spring Is Coming With A Strawberry In The Mouth« (1979) und »Rapid Eye Movements« (1981) zusammenfasst. Roger Doyle war mit seinen elektroakustischen Experimenten auf »Oizzo No« (1975) und »Thalia« (1979) bereits einen Schritt weiter als die meisten anderen. Mit »Spring Is Coming With A Strawberry In The Mouth« entdeckte er Sampling und Drumcomputer für sich und verschaffte sich einen Vorsprung von mindestens fünf Jahren auf die Musikgeschichte. Der Fairlight CMI-Sampler kam hier zum ersten Mal in einem irischen Studio zum Einsatz, was angeblich das Interesse von Bono Vox geweckt hat. Was gelernt! »Rapid Eye Movements« ist dann wieder etwas mehr der Musique concrétè-Wahnsinn, den wir von seinen früheren Platten kennen, und keinen Deut schlechter.

Sebastian Hinz
Overmono
Good Lies
XL Recordings • 2023 • ab 27.99€

Der erste Kandidat für die Konsens-Clubplatte des Jahres soweit. Hymnisch, gern ambivalent emotional, großraumgeeignet ohne doof, die Brüder Tom und Ed Russell von Overmono machen auf ihrem Debütalbum »Good Lies« so viele Dinge auf ihre spezifische Weise richtig, dass man wenig zu meckern findet. Dass sie die Tonlage ihres nervös hüpfenden Bassmusik-Grooves bei alledem mehr oder minder konstant beibehalten, mag man bemängeln. Man kann aber auch sagen: So gut, wie sie diesen Ton finden, lässt sich damit für knapp 50 Minuten bestens leben.

Tim Caspar Boehme   Zur Review
Phew
Our Likeness
Mute • 2023 • ab 33.99€

So viel YES hierauf! »Our Likeness« ist das zweite Album der japanischen Avantgarde-Musikerin Phew, und mit wem sie dafür, anno 1992, zusammengearbeitet hat… Alexander Hacke, den man von Einstürzende Neubauten kennt, CAN-Legende Jaki Liebezeit und Chrislo Haas (DAF, Liasons Dangereuses). Entsprechend viel Groove hat das Album, das in seinem Charakter natürlich Kunst bleibt, auch hier gibt es Noise, heftige Gitarren, Metal-Drums und jede Menge Theatralik. Fantastisch, was hier nebeneinander sein darf.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Rico Toto
Fwa Épi Sajès
Invisible City Editions • 2022 • ab 35.99€

Schon im Vorjahr versammelte die Compilation »Lèspri Ka: New Directions in Gwoka Music from Guadeloupe 1981-2010« einige eigenwillige Interpretationen eines tradierten Sounds, mit »Fwa Épi Sajès« wird die Sache aber zum Autorenkino. Rico Toto veröffentlichte das Album im Jahr 1993 und griff dabei nicht allein auf die Hilfe des Ensembles Moundjahka zurück, sondern ebenso auf einen Gerätepark, der selbst Superbooth-Regulars die Brille beschlagen lassen würde. Das Endresultat erinnert natürlich streckenweise an Jon Hassell oder die tropischen Drums von Deutschland, heißt aber Toto zufolge ganz einfach: Electro-ka. Alles daran ist sehr, sehr geil.

Kristoffer Cornils   Zur Review
Romance
Fade Into You
Ecstatic • 2023 • ab 32.99€

Romance übersetzt mit »Fade Into You« den Fassbinder-Film, »Die bitteren Tränen von Petra Kant«, in ein glitzernend Kitsch-Vergänglichkeits-Sound, der nach einer dramatischen Mischung aus David Lynch, 90er R&B und Burial klingt. Palmbomen IIs Cindy-Werke fallen direkt ein. Gehörige Portion Nostalgie steckt hier drin, fast bekommt man das Gefühl, tumblr würde peaken und das Internet sei noch ein guter Ort. Welches Jahr haben wir? 2012?

Pippo Kuhzart
Roxane Métayer
Perlée De Sève
Marionette • 2023 • ab 14.69€

Roxane Métayer macht auf »Perlée De Sève« aus vielen kleinen Dingen ein großes. Geige, Holzbläser, Effekte sowie ihre Stimme kommen in Stücken zum Einsatz, in denen Sounds frei im Raum schweben zu scheinen. Was sie zueinander zieht und miteinander schwingen lässt, sind die leitenden Ideen der Französin, die abwechselnd Folk, Minimal Music, Fourth-World-Anleihen oder elektroakustische Musik zu ihrem kompositorischen Ausgangspunkt nimmt. Die Reise scheint zwar vorbestimmt, ihren Verlauf aber kennt nur Métayer. Wer ihr dabei folgt, wird immer wieder überrascht.

Kristoffer Cornils
Ruth Anderson & Annea Lockwood - Tête-à-Tête
Ergot • 2023 • ab 32.99€

Ruth Anderson und Annea Lockwood verbrachten ein halbes Jahrhundert miteinander, und das nicht nur als Paar mit gemeinsamen Wohnsitz. Sie machten auch Kunst miteinander, weshalb dieses der im Jahr 2019 gestorbenen Anderson gewidmete Album wohl die einzig logische Coda ihrer Beziehung zueinander ist. Das Herzstück ist »Conversations«: Aufnahmen der allerersten Telefongespräche dieser beiden, fast ausschließlich sind nur ihre Lacher und seltener der Anlass dafür zu hören. Auch wenn er natürlich im Gesamten spürbar wird: die Aufregung der jungen Liebe. Abgerundet wird »Tête-à-Tête« von je einem Solo-Stück.

Kristoffer Cornils
Salenta + Topu
Moon Set, Moon Rise
Futura Resistenza • 2023 • ab 24.99€

»Moon Set, Moon Rise« fühlt sich wie eine Meitei-Platte ohne die Beats oder ein The-Caretaker-Album in der falschen beziehungsweise richtigen Geschwindigkeit an. Oder doch wie eine verblasste Erinnerung an eine verzweifelte Nacht mit der Musik Alice Coltranes. Es ist wie alles, was sowohl Neo-Klassik als auch Jazz immer sein wollten und dann doch aus verschiedenen Gründen nie konnten. Ein Klavier, ein Cello, zwei »old souls«, wie Salenta Baisden und Topu Lyo sich selbst bezeichnen: Das ergibt in der Gleichung Musik, die zur reinen Stimmung geworden ist. Zum Vibe. Zu einem Gefühl, das aus sich selbst heraus geboren wird. Ein Album für die Ewigkeit, flüchtig wie Zigarettenrauch an einem offenen Fenster.

Kristoffer Cornils
Sam Goku
The Things We See When We Look Closer
Permanent Vacation • 2023 • ab 21.99€

Eine der liebsten Praktiken im Musikjournalismus: Alben des Jahres ausrufen, wenn dieses gerade mal zwei Monate alt ist. Sam Gokus »The Things We See When We Look Closer« ist ein Kandidat, der diese Reaktion zu Dutzenden provoziert haben dürfte. In diesem Fall aber zu Recht, hat es der in München ansässige Producer doch hinbekommen, über elf Tracks eine plastische Welt aus Techno, Ambient und House zusammenzupuzzlen, der man beim Gleiten auf dem »Lotus Drive« seine Leidenschaft für Videospiele deutlich anhört.

Maximilian Fritz
The Necks
Travel
Northern Spy • 2023 • ab 39.99€

Es ist eigentlich unfassbar dreist, dass The Necks ein paar Aufwärmübungen auf Platte pressen und »Travel« dann schlicht eines der besten Alben des Jahres wird. Jazz? Post-Rock? Minimal Music, auf eine Bandbesetzung transponiert? Alles davon, aber nichts. Wie immer also stattdessen einfach nur drei Typen, die seit drei Jahrzehnten aus dem Nichts heraus Musik machen können, die die Zeit stehen lässt. Insbesondere hier, in diesen vergleichsweisen kurzen Improvisationen, die sie hier in etwas polierter Form darbieten. Und die bescheiden und freundlich alles in den Schatten stellen, was jemals Vergleichbares versucht hat.

Kristoffer Cornils   Zur Review
TLF Trio
Sweet Harmony
Latency • 2022 • ab 26.99€

Nochmal Piano, nochmal das Arthur Russell-Cello. Auf »Sweet Harmony« findet das TLF Trio die magische Formel aus unverhohlener neoklassischer Harmoniesucht und einer abgeklärt-minimalistischen Jazz-Coolness, die dieses Album endlos relistenable machen.  

Florian Aigner
Tolerance
Divin
Mesh-Key • 2023 • ab 44.99€

Das zweite und letzte Album der japanischen Studentin der Zahnmedizin, Junko Tange aka Tolerance, ursprünglich 1981 erschienen, war damals und ist heute ein ziemlicher Hammer. Kaum zu glauben, dass eine Studentin mit limitierten Mitteln dieses Album vor gut 40 Jahren aufgenommen haben soll. »Divin« ist Prot-Dub-Techno, Proto-Industrial, Lo-Fi-Tape-Ästhetik, mit grenz-dissoziativen Vocals von Masami Yoshikawa, mit Peitschenhieben, totaler BPM-Offenheit, und einnehmender atmosphärischer Dichte.

Pippo Kuhzart   Zur Review
Tzusing
Green Hat
Pan • 2023 • ab 26.99€

Alarmbereitschaft ist hier name of the game. Gewaltbereitschaft, Aufstand, Angst, Adrenalin. Tzusing zerlegt sechs Jahre nach seinem großartigen Debüt »Invincible East« auch mit »Green Hat« ganze Straßenzüge. Hardgroove Techno mit argen dystopischen Vibes bildet den Kern, drum herum baut Tzusing ein Gerüst aus Industrial und EBM, das einem gleichzeitig den Puls höher treibt und das Blut in den Adern gefrieren lässt. Irgendwas will hier an die Macht und es ist definitiv nicht gut.

Pippo Kuhzart
upsammy
Germ in a Population of Buildings
PAN • 2023 •

upsammy beschäftigt sich in ihren Werken seit Jahren mit dem fruchtbaren Kontrast zwischen Artifiziellem und Organischem, sie setzt Menschengemachtem Natürliches, Gluckerndes, Raschelndes entgegen. Auf »Germ In A Population Of Buildings« geht diese Praxis bislang am besten auf, weil Thorsing ihre Tracks, die zwischen Bass Music, Techno und Ambient pendeln, dieses Mal nicht nur metaphorisch, sondern ganz wahrhaftig sprechen lässt, und damit den ihrer Musik inhärenten Verfremdungseffekt ins Unermessliche steigert.

Maximilian Fritz
Vladislav Delay
Whistleblower
Keplar • 2023 • ab 32.99€

Sasu Ripatti hat »Whistleblower« unter seinem Pseudonym Vladislav Delay 2007 auf seinem eigenen Label Huume auf CD veröffentlicht. Nun hat Keplar sie erstmals auf Vinyl aufgelegt. Und in dieser Version ist einiges anders. Damit meine ich nicht nur das Artwork, sondern auch die Tracks selbst. Ripatti hat sich die Originalmusik noch einmal zur Brust genommen und so finden sich auf dieser Neuauflage bei mehr als der Hälfte der Tracks neue Mixe. Das macht die Musik schärfer, kantiger, roher. »Whistleblower« markierte ohnehin schon einen Wendepunkt in Vladislav Delays Werk. Es ist die letzte Platte, auf der er hauptsächlich analoges Equipment verwendet. Es ist die letzte Platte, die er in Berlin aufnimmt. Auch musikalisch herrscht Aufbruchstimmung, die Enden liegen lose auf dem Boden. Rhythmisch schleicht er sich davon, nicht ohne Spuren zu hinterlassen.

Sebastian Hinz   Zur Review

Vinyl-Halbjahres-
rückblick 2023

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