ACT. Das steht für Aktion. Bewegung. Kontinuität. Das deutsche Label treibt seit über drei Jahrzehnten den Jazz in Europa an. Besonders schwedische Künstler wie Esbjörn Svensson und Nils Landgren sind mit ACT groß geworden, haben sich von Abba bis Avantgarde austoben dürfen – auch weil ACT unter Schirmherr Siggi Loch weniger stockärschlerisch dachte als der Münchner Stadtrivale ECM. Mittlerweile ist der Labelkatalog von ACT knapp 650 Veröffentlichungen schwer. Loch, der Clive Davis des europäischen Jazz, geht auf die 83 zu. Ein Generationenwechsel ist im Gange. Von München aus blickt man in den Norden und von dort in die Zukunft.
Seit 2015 führt Andreas Brandis die Geschäfte, seit 2022 ist er auch Gesellschafter. Der Berliner, der unter anderem bei Universal für Deutsche Grammophon gearbeitet hat, wird ACT irgendwann übernehmen. »Ich kannte Siggi durch meine Tätigkeit, wir hatten aber nie persönliche Berührungspunkte gehabt, bis mich eine E-Mail von ihm erreichte«, sagt Brandis zu HHV. Loch habe sich verabreden wollen, aber keinen Grund dafür genannt. »Seine Frau Sissy war dann auch dabei, als wir uns in Grunewald im kleinen, aber legendären italienischen Restaurant Capriccio trafen. Nach ein, zwei Minuten Smalltalk sagte Siggi, ziemlich straight: ›Passen Sie auf, ich bin auf der Suche nach jemandem, der ins Unternehmen kommt, es mit mir leitet und gegebenenfalls auch übernimmt.‹«
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»Das war krass«, sagt Brandis heute. Er lebt zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie in Berlin. ACT, sechs Stunden auf der A9 entfernt, sitzt in München. Außerdem erwartet Brandis, der halb so alt ist wie Loch, mit seiner Frau gerade das zweite Kind. »Ich habe lang überlegt, auch mit meiner Frau gesprochen, schlussendlich sagte ich aus Überzeugung zu. Am Pfingstmontag 2015 sollte ich den Vertrag unterschreiben. Um vier Uhr früh schickte ich Siggi aus dem Kreißsaal eine SMS – das Kind kommt!«
Sich selbst und der Sache entsprechen
Einige Tage später unterschreibt Brandis doch. Er verantwortet von nun an musikalische Entscheidungen, aber auch das Budget, rechtliche Verpflichtungen sowie die Führung der Mitarbeiter:innen bei ACT. Auf letzteres setzt er zu Beginn den Fokus. Schließlich waren die Leute bislang gewohnt, dass Siggi das Zentrum des Labels war. »Plötzlich wird den Leuten ein junger Neuer vorgesetzt. Viele in der Branche glaubten auch, dass so eine dominante Persönlichkeit wie Siggi Loch nicht loslassen könnte. Dass es doch möglich ist, war meine Herausforderung. Bei ACT musste ich mich erstmal mit meinen Qualitäten durchsetzen.«
Brandis’ Qualitäten schöpfen sich aus beiden Industriebereichen – das Indie-Geschäft lernt er bei Ferryhouse unter Björn Mathes kennen. Bei einem Tanker wie Universal zu arbeiten, habe ihm außerdem das Fingerspitzengefühl in Sachen Interessenvertretung mitgegeben. Etwas, das ihn stark von Siggi Loch unterscheide, »und das würde der auch so unterschreiben, ist die Tatsache, dass Siggi sein ganzes Leben lang Chef war. Er war nie Teamplayer, ich bin hingegen Teammensch. Ihn hat es wohl beeindruckt, dass ich schnell ein funktionales Team bilden konnte, das Bock darauf hat, neue Schritte zu gehen.«
»Er war nie Teamplayer, das würde er auch so unterschreiben.«
Andreas Brandis
Für ACT sitzt Brandis inzwischen vermehrt auch im Studio. Man wolle ein produzierendes Label bleiben, denn ACT sei nie nur eine Serviceplattform gewesen, die Musik vertreibt. Unsere Daseinsberechtigung, so Brandis, leite sich viel eher daraus ab, dass man Künstler:innen einen Mehrwert geben kann. »Das umfasst nicht nur Marketing und PR, sondern die glaubhafte Darstellung der eigenen Kunst. Wir sind also Sparringspartner, sprechen schon vor den Aufnahmen über die Musik und entwickeln Geschichten, denen man als Zuhörer:in folgen will.«
Herzensangelegenheit Jazz
Das Unternehmen beruhe deshalb stark auf zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Künstler:innen des Labels seien für Siggi wie eine erweiterte Familie. »Einer seiner engsten Beziehungen, jener zu Michael Wollny, ist heute eine meiner engsten Künstler:innen-Beziehungen«, so Brandis. »Das ist emotional sicher schwierig für ihn – sie gehen zu lassen und zuzusehen, wie jemand anderes eine neue Beziehung aufbaut –, zeigt aber auch, wie großzügig Siggi ist.«
Jazz, das könne bei ACT von Tradition bis zur Indie-Musik alles sein, so Brandis. »Ein schönes Beispiel dafür sind Dearest Sister aus Schweden, die man durchaus im Indie-Pop verorten könnte. Auch bei einer Band wie Kuu!, die eine anarchische Version von Rock, Punk und Jazz machen, merkt man, wie unterschiedliche Publika sie erreichen.« Diese Bandbreite – »von anspruchsvoller Avantgarde bis hin zu dem, was manche kommerziellen Jazz nennen« –, wolle Brandis weiterhin abdecken. Denn die Vielfalt auf ACT hänge nicht nur mit Siggis Liebe zur Vielfalt von Jazz zusammen. »Sie ist auch mein Leben.«