Records Revisited: Autechre – Incunabula (1993)

29.11.2023
Das Debütalbum der legendären Mancunians ist Zeitgeist-Musik und Vorschau auf ihre zukünftige Singularität. Herausgebracht hätten es Autechre so trotzdem nicht.

Autechre-Fans können sich noch immer über jedes Release des Duos in die Haare kriegen. Ihr Debütalbum »Incunabula« von 1993 ist dabei häufig eine Referenz – Nukleus des Konflikts – die auf alle Diskussionen über die anderen Alben überschlägt. Auf der einen Seite stehen die Fans, die die Melodiösität, Verständlichkeit und Beziehbarkeit des Erstlings ins Herz geschlossen haben. Auf der anderen Seite verweilen die Fans, die – nun ja – einfach feiern, was immer Autechre aus ihrem jeweiligen Aufenthaltsort im Universum zu ihnen hinüber senden. Zwischen diesen beiden Extremen werden die kleinen Fehden in den Foren und Kommentarspalten ausgetragen.

Dass gerade das offizielle Debütalbum von Autechre (das Duo hatte 1991 bereits als Lego Feet ein gleichnamiges Album auf Skam Records veröffentlicht) Kern der Diskussion ist, mag daran liegen, dass Autechre mit »Incunabula« noch mit beiden Füßen auf der Erde standen. Das Album besitzt Referenzen, zu denen die Hörenden einen Bezug herstellen können, die verständlich und leicht zugänglich sind. Die Erinnerungen an Bleep & Bass mit seinen metallischen Beats, den kompetitiv übermäßig rumpelnden Subbässen und oft quäkenden Synths. Die klar nachvollziehbaren Strukturen und greifbaren Melodien. Der damalige Zeitgeist der Chillout-Zones mit ihren trippigen Flächen für den verlängerten Drogenkonsum.

In das Genre-Korsett gezwungen

Gerade letzteres versuchte Autechres Label Warp Records zum Zeitpunkt der Veröffentlichung mit der cleveren Branding-Kampagne »Artificial Intelligence Series« einzufangen. Zwischen 1992 und 1994 positionierte sich das Sheffielder Label (das seit 2000 in London residiert) mit diesem Brand erfolgreich als DAS Label für Electronic Listening Music, die eine Alternative zur ermüdenden Club- und Hardcoreszene in Großbritannien entwickeln sollte. In den drei Jahren erschienen unter diesem Banner wegweisende Alben von Polygon Window (alias Aphex Twin), F.U.S.E. (alias Richie Hawtin), Black Dog Productions, B12 und Speedy J. Auch Autechre sollten in dieses Raster passen.

Es ist nicht das Album, das wir herausgebracht hätten, sondern eines, das Warp aus hunderten unserer Tracks zusammengesucht hat.«

Sean Booth

Denn eigentlich hätte Autechres Debüt so klingen sollen, wie die »Warp Tapes 89-93«, die Sean Booth und Rob Brown 2019 kostenfrei als zweistündigen Archivmix auf ihrer Seite veröffentlichten. »Der Hauptgrund, weshalb die Warp Tapes nie bei Warp erschienen, war dessen Fixierung auf diesen Electronic Listening Music Brand. Rob Mitchell würde immer wieder sagen: Klingt gut, aber irgendwie veraltet«, erklärte Sean Booth 2022 in einem seiner Twitch-AMAs (Ask Me Anything).

Am Ende kostete es Autechre zwei Jahre Musikschaffen, »Incunabula« zusammenzubringen und Warp-Gründer Rob Mitchell zu besänftigen, der zu diesem Zeitpunkt ihr A&R war. Und auch wenn die Musik von Autechre ist, das Album ist es nicht, wie Booth im AMA einräumt: »Incunabula klingt nach einem kuratierten Album. Es ist nicht das Album, das wir herausgebracht hätten, sondern eines, das Warp aus hunderten unserer Tracks zusammengesucht hat.«

Zwischen Zeitgeist-Musik und Speerspitze

Die daraus resultierende Inkonsistenz bleibt auch 30 Jahre später auffällig. Wo die nachfolgenden Alben von Autechre stets einer Art Motiv oder ästhetischen Leitidee folgen, erscheint »Incunabula« bruchstückhaft. Der labelgegebene Zwang, in das damalige Branding-Korsett zu passen, macht das Album deshalb auch zu einer Anomalie im Schaffen des Duos. Es ist eine der wenigen Veröffentlichungen von Autechre, der die Entstehungszeit angehört werden kann. Und es ist der (einzige) Grund, weshalb sie von Journalist*innen noch immer unter dem verabscheuten Genrebegriff IDM geführt werden.

Zugleich darf es als Zeichen gelesen werden, dass »Incunabula« das letzte Album der Warp-Kampagne war, bevor diese 1994 mit der Compilation »Artificial Intelligence 2« offiziell abgeschlossen wurde. Denn trotz der Referenzierbarkeit und des Zeitgeistklangs hatten Autechre mit ihrem Debüt alle anderen Künstler:innen dieses vermeintlichen Genres Ende 1993 um Längen überholt. In den Mikrowelten der einzelnen Tracks zeigten Autechre bereits eine beeindruckende Finesse, ihre Hip Hop- und Electro-Vergangenheit mit einer großen Liebe für den Sound der alten Midiverb und Quadraverb-Geräte, Acidlines, minutiöse Mutationen und die räumliche Klangverortung zu fusionieren.

Nach »Incunabula« beugten sich Autechre nur noch ein einziges Mal dem Zeitgeist-Anspruch iihres Labels – mit dem Nachfolger »Amber« (1994), das sie dem Label zu liebe genau so ablieferten, wie sie dachten, dass die Chefetage es wollte. Danach verließen sie die hiesigen Gefilde und schicken seitdem in regelmäßigen Abstände Signale aus den musikalisch unbewohnten Ecken unseres Universums.