Aigners Inventur: September & Oktober 2023

14.09.2023
Der Pop-Diskurs non-existent, die Kultur durchtiktokisiert: Unser Kolumnist übt sich ob solcher Widerstände in balearischer Dödeligkeit und findet zwischen OG Keemo, Slowdive und Tzusing die müdeste Platte des Jahres. Unter anderem.
Travis Scott
UTOPIA
Sony • 2023 • ab 20.99€

Travis Scott bleibt auf »Utopia« die identitätsloseste Gallionsfigur im Rap-Game, ein Thronfolger, der in erster Linie von Kanyes Selbstdemontage, Young Thugs Rico-Auszeit und Drakes Überpräsenz profitiert, aber auf Albumlänge ein ums andere Mal untermauert, dass sein eigentliches Genie in chamäleonhaftem Branding und nicht visionären Konzepten liegt.

Florian Aigner
Larry June & The Alchemist
The Great Escape
Empire • 2023 • ab 37.99€

Larry June hat sich in den letzten Jahren in die Starting Five der Alchemist Kollaborateure gespielt, mit Dauerverfügbarkeit, eiserner Lunge und Hustle Play um Hustle Play. »The Great Escape« rückt die Stärken des Duos konsequent in den Mittelpunkt, Junes klassische Westküstendelivery betont besonders die omnipräsente Blaxploitation-Loopiness und Yacht-Romantik, die Alchemist im Akkord produziert, und die aktuell immer eine Spur zeitloser wirkt als bei den anderen noch aktiven First Ballot Hall Of Famern.

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OG Keemo
Fieber
Chimperator • 2023 • ab 28.99€

Keine Review, barely eine Prophezeiung: am Freitag erscheint OG Keemos neues Mixtape mit Funkvater Frank und wenn die vorab verfügbaren Tracks ein Indikator sind, wird »Fieber«, wie immer, das beste was dieses Jahr im deutschen, wenn nicht globalen Rap-Kontext veröffentlicht werden wird. 

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Yungwebster
Yungwebster
Sferic • 2023 • ab 27.99€

Sferic lehnen sich mit Yungwebster mal etwas weiter aus dem Fenster, gescrewter Syruprap ist aber eigentlich auch das, was nach dem letzten Space Afrika-Album nur noch zu Ende gedacht werden musste, um die unantastbare Position, die sich das Label aus Manchester in den letzten Jahren erarbeitet hat, nochmal um mindestens fünf Jahre zu verlängern. Die müdeste Platte des Jahres und allein deswegen essentiell. 

Florian Aigner
Voice Actor
Fake Sleep
STROOM 〰 • 2023 • ab 28.99€

In die Müdigkeit schleicht sich bei Voice Actor eine gewisse Grundnervosität, die dieser wahnsinnigen, gefühlt 900 Songs langen Digitalsammlung eine Klammer gab, die es beinahe unmöglich macht in klassischem Tonträgerformat die selbe uncanny Erfahrung zu machen. Dennoch: auch auf 16 Stücke verkürzt, ist »Fake Sleep« eines der Alben des Jahres. 

Florian Aigner
Tirzah
Trip9love…???
Domino • 2023 • ab 29.99€

Tirzahs »Colourgrade« ist für mich bisher vielleicht das definierende Pop-Album dieses jungen Jahrzehnts, »Trip9love…???« eine unerwartete Zugabe, auf der Tirzah und Mica Levi bewusst Motive und Beats auf der Mikroebene denken und so eine repetive Wirkung erzeugen, die - mit anderen Mitteln - stellenweise an DJ Pythons stetig weiter zum Klassiker reifendes »Mas Amables« erinnert. 

Florian Aigner
Der Assistent
Der Assistent
Papercup • 2023 • ab 24.99€

Es gab in den letzten Jahren viele hippe deutsche Platten aus der NRW-Bubble, deren Existenz mich erfreut hat, die mir aber auch häufig das Gefühl gaben, dass diese Post-Post-Post-DAF-Sache vielleicht auch einfach zu Ende erzählt ist. Irgendwie geiler, weil trotz Meta-Internet-Präsenz ein richtiger Schmachtfetzen: die Platte von Der Assistent, der im Herzen genau die Popsau zu sein scheint, die es braucht um wiederholt auf dieser Platte beinahe in die deutsche Version von »Why Can’t We Live Together« zu stolpern. 

Florian Aigner
Ricardo Dias Gomes
Muito Sol
Hive Mind • 2023 • ab 22.99€

Meine Beziehung zu Bossa Nova ist kompliziert, Schuld daran bin ich. Wenn man aber, wie Ricardo Dias Gomes auf »Muito Sol«, diese trippelnde Eleganz mit allerlei Irritationsmomenten bricht, Kraut und Psych als weitere Leitmotive etabliert sind und Fado als Downer mitdenkt, bin ich halt auch begeistert. Jahresbestenlistenscheiß werden alle sagen und Recht behalten.

Florian Aigner
bar italia
Tracey Denim
Matador • 2023 • ab 27.99€

Bar Italia sind so untouchably cool, dass selbst ein Switch von World Music zu Matador und das Restrisiko in der Urban Outfitters Playlist zu überwintern, nichts am Status der Band ändern werden. Je nach Generation überwiegen in diesem perfekt arrangierten Indie-Album die Identifikationsflächen, wer hier 1981, 1996, 2007 und 2023 hört, hat gleichermaßen recht. »Tracey Denim« ist die Platte, die Carla Dal Forno nun nicht mehr machen muss.

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Slowdive
Everything Is Alive
Dead Oceans • 2023 • ab 27.99€

Das Slowdive-Revival ist nach Reissue-Runde und allgemeiner Rezentralisierung im (für mich nicht existenten) Pop-Diskurs nun am gefährlichsten Punkt angekommen: der zweiten Platte nach der flitterwochigen Reunion. »Everything Is Alive« kommt aber von einer Band für die Wertschätzung in Echtzeit immer noch neu ist, so dass sich auch dieses Album in all seiner reverby Slowdivy-ness komplett von Erwartungen befreit anfühlt. Es hilft vermutlich auch zu wissen, dass ohnehin jeder die Band nach vier Akkorden erkennt. 

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Philipp Otterbach
The Dahlem Diaries
Music From Memory • 2023 • ab 26.99€

Eine Laudatio auf Philipp Otterbach beginnt typischerweise immer noch mit einem langen Absatz über sein außergewöhnliches Gespür für Textur und  – äääh – Mood im DJ-Kontext, aber spätestens nach dieser doppelten Albumoffensive im Frühherbst, muss für seine eigenen Produktionen mindestens genau so viel Platz eingeräumt werden. »The Dahlem Diaries« ist Otterbachs introspektive Gitarrenplatte und auch wenn sie ebenfalls über MFM erscheint, hat Otterbachs Version davon wenig mit dem meersalzigen Romantismus von Gaussian Curve et al. zu tun. Otterbach bleibt schroffer, fragmentierter, eine monochrome, bergmanneske Version balearischer Dödeligkeit. 

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Piotr Kurek
Peach Blossom
Mondoj • 2023 • ab 27.99€

Piotr Kurek verbindet unterdessen Formalismus mit Auto-Tune-Jazz, »Peach Blossom« ist eine der raren Platten, die ihre Kunstaustellungsgenese nicht verbergen, aber losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext sogar noch virtuoser wirken, weil die Musik sich erst hier vollständig von all der Anstrengung emanzipiert. 

Florian Aigner
Irreversible Entanglements
Protect Your Light
Impulse! • 2023 • ab 28.99€

Moor Mother denkt Jazz anders, als Kopf von Irreversible Entanglements besonders klassisch politisch, als Befreiungstool gegen systemischen Rassismus und in einer Linie mit den Ikonen der Civil Rights Ära, aber musikalisch mit der Punkiness der Folgegeneration. »Protect Your Light« ist so zu jedem Zeitpunkt wild retrofuturistisch und wie immer vollkommen unangepasst. 

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Chris Abrahams, Oren Ambarchi & Robbie Avenaim
Placelessness
Ideologic Organ • 2023 • ab 26.99€

Als ich Kollege Kuhzart neulich digital aufforderte »Placelessness« zu hören, antwortete dieser keck er fühle sich instant drei Dekaden älter, ein backhanded Compliment, das aber vor allem ausdrückt wie großväterlich *Chris Abrahams, Oren Ambarchi & Robbie Avenaim* hier klassisch dronigen Ambient mit spirituellem Jazz kombinieren. Wäre 1977 gut gewesen, ist 2023 gut und wird 2055 gut sein.

Florian Aigner
KMRU, Abul Mogard
Drawing Water
A Sunken Mall / Vaknar • 2023 • ab 24.99€

Und noch so eine LP, die ihren Ambient-Auftrag ernst nimmt, aber langfristig zu viele Elemente enthält, um als reiner ASMR-Ersatz zu altern. KMRU & Abul Mogard finden mit dem Titel »Drawing Water« vielleicht selbst die beste Bezeichnung für ihre Musik – ein Album für den November. 

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Minor Science
Absent Friends Vol.III
Balmat • 2023 • ab 26.99€

Nochmal Ambient, dieses Mal als Live-Improvisation eines Produzenten, der zuvor vor allem alle BPM-Ranges für seine abstrahierten Club-Tracks nutzte und nun mit »Absent Friends Vol.III« die obligatorische beatfreie Platte mit allerlei Technerd-Erläuterungen zu einem größeren künstlerischen Statement aufbläst als sie es eigentlich ist. Natürlich hat Minor Science nicht auf einmal sein Gespür für interessante Syntharpeggios und grelle Texturen verloren, er spielt hier aber weitgehend gegen seine eigentlichen Stärken, das Drumprogramming, an. 

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Lazarus
Mimoto
Yuku • 2023 • ab 28.99€

Ein gutes Stichwort: »Mimoto« ist vor allem deswegen eine auch zuhause beeindruckende Floor-Platte, weil Lazarus ballert ohne zu ballern. Egal ob hier D&B, Grime, Garage, Rave oder Hard Drum das Fundament sind: jeder Track wirkt bemerkenswert zu Ende gedacht und effizienzbefreit. Erste Reihe, ganz klar. 

Florian Aigner
Tzusing
Green Hat
Pan • 2023 • ab 26.99€

Dort hält sich Tzsusing mittlerweile auch schon über zehn Jahre auf, eine Zeitspanne, die für Tanzmusikproduzenten heute beinahe unheimlich ist, sich aber spätestens, wenn man ein Tzusing-Interview liest, küchenpsychologisch erklären lässt. »Green Hat« ist vielleicht das innovativste, mittelfingerigste Album eines der letzten MFers in einer zunehmend tiktokisierten (Sub)kultur und die Cuck-Referenz im Titel ein absolut hilariöser Stinkefinger an den eigenen Vater. 

Florian Aigner

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