Es ist leider eines der sichersten Anzeichen, zu einer Fußnote im aktuellen Pop- und Rap-Diskurs geworden zu sein, wenn dein Album relativ pünktlich zum Release-Date auch auf Vinyl erscheint. Das neue Gorillaz-Album ist soweit weg von dem, was Gorillaz-Alben, in all ihrem megalomanischen Kalkül die ersten 10 Jahre ausgezeichnet hatte: kontemporärer Popmusik zumindest ein neues Kapitel hinzuzufügen, wenn schon nicht ein neues Buch zu schreiben. Auf »Cracker Island« sucht Damon Albarn vergeblich nach seiner Edge und findet sich erstaunlich selbstverständlich damit ab mit biederem Songwriting und standardisierten Melodien niemanden unter 30 mehr abzuholen. Das ist mehr menschlich als dramatisch, wird dem Anspruch an die Origin Story der Gorillaz aber weniger gerecht als je zuvor.
Florian AignerKomplett verkalkuliert hat sich auch Lil Yachty, der frühen Spott und Häme für seinen vernuschelten Minimalismus offensichtlich nicht verwunden hat, und jetzt die obligatorische KÜÜÜÜNSCHTLER-Phase erreicht hat. Das heißt auf »Let’s Start Here« konkret: white gewashte Post-Malone-Gitarren, algorithmisiertes Crooning und ein 2014 hängengebliebenes Pop-Verständnis, irgendwo zwischen Tame Impala und Imagine Dragons. Aua.
Florian AignerWie man seinen Sound systematisch clubavantiger macht und dennoch den eigenen Kernkompetenzen treu bleibt, zeigt hingegen Kelela auf »Raven«, der snobbistischen Alternative zum letzten Beyoncé-Album. »Raven« geht noch mehrere Schritte weiter als »Renaissance«, verlässt sich produktionstechnisch nicht nur auf die Club-Visionen von LSDXOXO oder Nguzunguzu, sondern räumt der spukigen Hauntology von OCA auf einem vor ideenplatzenden Album gleich mehrfach prominent Platz ein. Viel besser kann man R&B 2023 nicht ausdefinieren.
Florian Aigner Zur ReviewApropos: Kelman Duran lässt Holodec für sein Album Debüt auf Scorpio Red jede erdenkliche Freiheit. »All Dogs Come From Wolves« klingt wie Winding-Refns L.A. ohne den Neon-Filter, eine unvorhersehbare Mischung aus gescrewtem AI-Ambient, entkörperlichtem R&B, beats to study to - Finten und noirigen Clubmusik-Skizzen. Ein frühes Highlight des Jahres.
Florian AignerEtwas konventioneller wirkt dagegen Khotins lange vorbereitete Abkehr von funktionaler Tanzmusik. »Release Spirit« verliert sich dabei glücklicherweise nie in zu exaltierten Auteursgesten, ein Großteil der Stücke hätte zu jedem Zeitpunkt auch als B2 auf einer frühen Khotin-12" existieren können und mit etwas Geschick, ist das vielleicht sogar noch Warm-Up-Futter für Romantiker:innen. In erster Linie aber eine Diplomarbeit darüber, wie man es rechtzeitig aus dem Club in die Küche schafft.
Florian Aigner Zur ReviewVielleicht das bisher beste Club-Album des Jahres hat derweil Oceanic gemacht, vor allem deswegen weil »Choral Feeling« eher zufällig dort landet und mit Mitteln, die hierfür eigentlich oft eher hinderlich sind: Stimmen, jede Menge Stimmen. Oceanic arrangiert die Vokalbeiträge von engen Freund:innen zu einer ungewohnt maximalistischen Wall Of Sound, die dennoch ungewöhnlich fragil klingt und Hyperpop-Produktionstechniken in die ekstatische Logik von House überführt.
Florian AignerTolouse Low Trax kultiviert die Schroffheit seiner nicht mehr ganz so neuen Heimat Paris nicht nur im Titel seiner nächsten LP, auch rhythmisch ist »Leave Me Alone« deutlich französischer als seine Vorgänger. Kontemporärer Rap scheint hier als Inspirationsquelle deutlicher durch als auf vielen vorherigen Tolouse Low Trax-Projekten, aber auch Warp-Ära-Zitate werden hier mit der Selbstverständlichkeit eines Musikers, der halt dabei war, sepiafarben überstrichen. Abgeklärt unkritisierbar, wie immer.
Florian AignerNoch rostiger klingen die Maschinen auf »The Life & Times Of GiGi Black«, einem monströsen 4LP-Pack auf Traxx’ Nation Label. Für mich ist da nach ein, zwei Minuten die Messe schon gelesen, weil selten jemand so überzeugend nach Suicide zwischen dem ersten und zweiten Album klang wie S.S.P.S. hier. Es wird später etwas säuriger und kickdrum-lastiger, aber lange kein so konsequent brutales Album gehört, das nicht von Jamal Moss produziert wurde
Florian AignerWell, they did it. Valentina Magaletti und Laila Sakini arbeiten endlich als Duo und »CUPO« multipliziert die besten Seiten beider. Magaletti trommelt, verzögert, stolpert, reverbt, schlingert, Sakini haucht, klimpert, reibt sich die Hände, friert, schwitzt. Jahresbestenlistenshit, easily.
Florian AignerAuch phänomenal und mit unter 20 Minuten Spielzeit clever auf Rewinds schielend: Nicolinis zweite LP für South Of North, die nach Lynch-Intro mit dem Titeltrack »Sopratutto« einen frech electroclashigen 4x4 Hit ins Rennen schickt, nur um sich im Anschluss dermaßen vogelwild an Dancehall-Patterns abzuarbeiten wie man das sonst eigentlich nur von Equiknoxx kennt.
Florian AignerAdela Mede macht auf »Szabadság« zunächst vor allem Cucina Povera-Dinge, bricht dann aber mit der durchaus brachialen Hittigkeit von Spolu aus dem Märchenwald aus, nur um sich im Anschluss wieder ganz tief in ritualistische Folkverhuschungen zu flüchten. An sich super, ich bin damit aber so durch wie mit Dinkelbrot.
Florian AignerUuuuuh, was Neues auf dem Dawuna Label. Dieses Mal weitgehend instrumental, piano-lastig und irgendwie schon auch die 2023er Stoner-Version eines Mo’Wax Tapes, natürlich mit den dementsprechenden ästhetischen Updates. Skins pendelte für »Never Cursed« zwischen Sri Lanka, Toronto und London und ihr schreibt euch jetzt gefälligst euer Narrativ für diese wirklich gute Platte selbst zu Ende.
Florian AignerJoseba Agirrezabalaga und Mikel Vega klingen ein bißchen so als hätte sich Jon Collin mal nicht unter eine Brücke, sondern auf Sean McCanns Veranda gesetzt. Der Blues trifft hier auf postrockige Dissonanz, das kontrastierende Gitarrengedudel fällt immer wieder für einige Sekunden zu purer harmonischer Bliss zusammen und löst sich genau so schnell wieder auf. »Leopok« ist Edging in Extremform und genau deswegen auch in Snippet- oder Reviewform kaum zu erfassen.
Florian AignerAuch »Shifted In Dreams« lässt sich schwer klischeefrei besprechen. Meine erste Assoziation war William Basinski ohne Loft-Aura, aber wem hilft das? Kassel Jaeger verlässt sich dafür ohnehin zu wenig auf die Wirkung singulärer Loops, erkennt aber deren erschütternde Wirkung in all dieser dronigen Molasse und setzt so immer wieder betörende Pointen in einem sonst so hermetischen Album.
Florian AignerDas erste Japan Blues-Album beschäftigt mich bis heute, jeder einzelne Hördurchgang ist anders. Nach achtmal »Meets The Dengie Hundred« ist klar: auch Album Nummer Zwei wird unfassbar bleiben, wortwörtlich. Insbesondere die 20-minütige B-Seite klingt wie nichts, was ich je gehört habe und das, obwohl die einzelnen Elemente eigentlich klar zuzuordnen sind. Jahrzehntbestenlistenshit, wahrscheinlich.
Florian AignerZum klarkommen eignet sich im Anschluss die zweite Kollaboplatte von Dean Hurley und Romance hervorragend, weil hier die Referenzpunkte so klar sind, nicht nur auf Grund Hurleys wohldokumentierter Arbeitsbeziehung zu David Lynch und Romances ungeniert schönen Soloarbeiten. »River Of Dreams« schreit nach Zweitverwertung für Film School Abschlussarbeiten und ist eigentlich so viel besser als dieses Schicksal.
Florian AignerZum Schluss die jährliche Portion an Dadcoregemütlichkeit, wieder fachmännisch sarkastisch angeboten von Bill Calllahan. »YTILAER« ist total okayer _mid_ Callahan, hemdsärmelig transparent, uramerikanisch und trotzdem emotional komplex genug um sich nicht bevormundet zu fühlen. Mindestens so Ü30 wie zu Beginn also, aber wandernde Haaransätze werden hier im Gegensatz zu Cracker Days würdevoll hingenommen.
Florian Aigner