Über das Gefühl in Sachen Deutschrap einfach komplett den Anschluss verloren zu haben, sinnierte ich an dieser Stelle vor zwei Jahren schon. Anlass war damals wie heute ein neues Haftbefehl-Album. Und weil ich so bereit war dem Narrativ zu folgen, dass sowohl Haft, als auch seine Hörerschaft alt und müde geworden sind, überrascht »Mainpark Baby« umso mehr. Klar ist das ein Best-Of-Versuch, von Bazzazians nach wie vor ungemein drückenden Produktion bis zu Haftis souveräner Deklination all seiner bisherigen Flows. Natürlich gibt es auch hier wieder unverzeihliche Zeilen zwischen all den FFM-Ebonics, allen voran von Azad, der mit seinem homophoben Boomer-Wortspiel beinahe das furiose »Dann Mit Der Pumpgun 2.0« zerstört. Sicher ist der inszenierte Abgang als verantwortungsvoller Familienvater in erster Linie Memefutter. Aber so genau hingehört wie hier habe ich trotzdem seit dem letzten OG Keemo-Album nicht.
Florian AignerZumindest wenn wir über klassische Rap-Alben sprechen. Denn kein Album habe ich letzten Herbst mehr gehört als Dawunas »Glass Lit Dream«, ein Album, das sich so nahe an den Abgrund stellte, wie sich das im R&B-Kontext zuletzt vielleicht wirklich D’Angelo traute. Im Herbst war »Glass Lit Dream« physisch komplett vergriffen, jetzt kommt die Tage ein bitter nötiger Repress des Stück für Stück besten R&B-Albums seit mindestens »House Of Balloons«.
Florian AignerWer hinter HONOUR und deren zwei Mixtapes auf Pan steckt, ist immer noch nicht final gelöst. Spekuliert wird nach wie vor über die Beteiligung von Mica Levi, Dean Blunt und John T. Gast an diesem vogelwilden Mixtape, auf dem sich Billo-Boombap, Just Blaze Bombast, zerfledderte Popsongs, Bristolismen und Basinski-Loops zu einem tripolaren Mo’Wax Demotape zusammenfügen, das weder mit 1998 noch mit 2023 kompatibel und genau deswegen so gut ist.
Florian AignerHinter dem neuen Cringe-Moniker Crimeboys stecken verbrieft hingegen Special Request DJ und Pontiac Streator. Wie schon auf dem ebenfalls exzellenten »Napping Under God«- Album bedient auch diese Kollabo auf 3XL eine diffuse Romantik, in der sich der Label-Umbrella-Ambient der Protagonisten in roughen Breaks auflöst, ohne aber zu vehement von der Couch in den Club zu drängeln, so lange der Playstation-Controller noch genug Akku hat.
Florian Aigner»Wum« von Yao Bobby & Simon Grab treibt den sonischen Assault ihrer bisherigen Kollaborationen hingegen so auf die Spitze, dass man »Wum« am besten stückelt. Grabs Produktionen sind für sich genommen schon ein Pfund, hier klingen sie, weniger der Dembow-Logik der vorherigen »Diamonds«-EP folgend, stellenweise als hätte El-P heimlich 2012 eine Push Button Objects-Remixplatte gemacht. Kombiniert mit Yao Bobbys voluminösen Vocals fügt sich das dann zu einer upgedateten Bomb Squad-Logik zusammen, die sich am besten in halbstündigen Etappen verdauen lässt.
Florian AignerNach äußerst produktiven Vorjahren überraschte Principe 2022 vor allem durch Verknappung. Vielleicht auch ein Grund dafür warum die Allstar-Kollabo RS Produções jetzt besonders hittet. Auf »Saude Em 1° Lugar« sticht dank prominentem Sample und wie gewohnt konkurrenzlosem Drum-Programming besonders das fast balladeske »Valentine’s Day 2K17« hervor, aber insbesondere wie hier im clubbigeren Kontext Brücken von Lissabon nach Detroit gebaut werden, ist absolut einmalig. Eine, wenn nicht die Tanzmusikplatte des letzten Jahres.
Sebastian Hinz Florian AignerRian Treanor ging mir 80 Prozent der Zeit bisher eher auf die Nerven, Überschall-Cutting-Edge-Gefrickel und alladat. Seine Zusammenarbeit mit Ocen James im Rahmen seiner Nyege Nyege-Residency 2018 ist nun aber das beste Album, das Treanor je machen wird. Saccades profitiert dabei auch von kontemplativen Phasen, in denen Treanor seine notorisch gehetzten Polyrhythmen zugunsten fast jazziger Improvisation zurücknimmt und Ocen James’ »Rigi Rigi« die zentrale Rolle einnimmt. Der »Farmers Manual Remix« übertreibt dann am Ende doch noch, aber insgesamt ist das ein fantastisches Album und eigentlich nur mit diesem noch unfassbareren »Kakuhan«-Album zu vergleichen, wo das Cello eine vergleichbare Rolle einnahm wie hier die Violine.
Florian Aigner Zur ReviewIch gebe zu bei Danny Wolfers vor sieben, acht Jahren ausgecheckt zu haben, aus quantitativen, nicht qualitativen Gründen. Dementsprechend kommt der Hinweis auf dessen Zusammenarbeit mit Taka Noda (alias Mystica Tribe) an dieser Stelle auch viel zu spät. Wolfers Synths ergänzen sich auf »Tascam Space Season« so selbstverständlich mit Nodas klassischen Harmonika-Dubs, dass es sich hier, anders als bei vielen neuen Dub-Platten mit klassischem Set-Up, einmal nicht so anfühlt als könnte man all das auch sofort in Reissue-Form in geiler haben.
Florian AignerGimmicky, aber undeniable ist derweil Maxime Denucs Formel für »Nachthorn«. Trance- und Rave-Melodien via Pfeifenorgel, Barker via Kali Malone, eine Idee so einfach wie gefährlich. Denuc schafft es fast durchgängig die käsigen Ibiza-Harmonien mit einer staatsmännischen Gravitas so einzufangen, dass »Nachthorn« nicht wie ein kalkulierter TikTok-Stunt wirkt, obwohl hier konzeptionell so viel Metamüll herumliegt, dass das eigentlich alles so krachend scheitern sollte wie »Everything Everywhere All At Once«.
Florian AignerCarla Dal Forno hat derweil den Punkt in ihrer Karriere erreicht, an dem man keine neuen Alben mehr braucht, weil die Essenz der Künstlerin Dal Forno durch ihre Radio Shows besser abgebildet wird als durch ihre eigenen Musik. Gleichzeitig ist »Come Around« aber natürlich wieder ein vollkommen geschmacksicheres, shoegazy Post-Punk-Album, auf dem sich Carla Dal Forno mit dem gesanglosen »Highlight Deep Sleep« gleichzeitig eine Tür aufmacht, um obiges Dilemma längerfristig zu lösen.
Florian AignerÄh, eine zotige Überleitung warum ich Nein Roderes bereits vor fast einem Jahr erschienenes Album erst jetzt entdeckt habe, drängt sich schon auf Grund des Albumtitels auf, aber ich erspare euch an dieser Stelle schlimmeres. »Catch Up With What Party +« ist jedenfalls ein Highlight in dieser durch BEB / Low Company angestoßenen, von Kashual Plastik, Horn Of Plenty und World Of Echo souverän weiterverwalteten Gitarrensache, die davon lebt, Songwriting eher als Option denn als Zwang wahrzunehmen und damit häufig in 2 Minuten mehr zu sagen als in 4.
Florian AignerApropos World Of Echo: Dort erschien am Ende des letzten Jahres mit »Thorn Valley« eine fantastisch kuratierte Compilation, auf der sich introvertierte Post-Post-Folksongs mit rauen Ambient-Skizzen und Piano-Figuren abwechseln, immer so dosiert, dass sich stilistisch nichts abnutzt. Läuft im Anschluss an das immer noch bemerkenswerte »Ballads« von Time Is Away perfekt durch.
Florian AignerNoch eine Platte aus dem letzten Jahr, die hier vergessen wurde: das vielsagend betitelte »I Survived, It’s Over«, auf dem Rich Ruth manchmal in zu düdelige Fusion-Improvisationen abgleitet, aber mit Desensitization & Reprocessing und Doxology zwei krautige Spiritual Jazz-Stücke platziert, die beide kanonisiert werden müssten.
Florian AignerSeit 2020 bin ich höchst anfällig für Musik, die in irgendeiner Form Lebenszyklen dokumentiert und reflektiert, so dass Dylan Henner mit »You Always Will Be« ganz leichtes Spiel hatte. Henner sagt: »The piece tells the story of a single life, from birth to death. I've been thinking about the passage of life a lot recently as I lost all four of my grandparents but celebrated the birth of my daughter all within a short period of time. The brevity and preciousness of being really hit me.« Ich schlucke.
Florian AignerEs fällt auch auf »12« schwer, nicht vom Zyklus des Lebens überwältigt zu werden, zu präsent ist Ryuichi Sakamotos wohldokumentiertes Krebsleiden, zu bedeutungsschwanger jede Note, die Sakamoto hier spielt, respektive nicht spielt. Kontextbefreit ist »12« eine wunderschöne Piano-Platte mit dezenten Synths und federleichten Drones, Sakamotos Lebensrealität mitdenkend wird »12« zu einer fast unerträglich schönen Elegie, elegant und gefasst, ein »Donuts« mit Stuck an der Decke.
Florian Aigner Zur ReviewArtifizieller als Sakamoto, aber auch als ihr bisheriges Werk, ist »Foam«, auf dem Ulla die gechoppten Elemente von »Tumbling Towards A Wall« aufgreift, aber wesentlich fordernder zusammensetzt. Natürlich erinnert das an die goldene Ära von Faitiche, wirkt aber als hätte eine entfremdete AI das Arrangement übernommen anstatt eines altbackenen Samplers.
Florian AignerNochmal Piano, nochmal das Arthur Russell-Cello. Auf »Sweet Harmony« findet das TLF Trio die magische Formel aus unverhohlener neoklassischer Harmoniesucht und einer abgeklärt-minimalistischen Jazz-Coolness, die dieses Album endlos relistenable machen.
Florian AignerEine meiner Platten des letzten Jahres erschien im November in lächerlicher Kleinstauflage, dürfte aber hoffentlich in den kommenden Monaten wieder auftauchen. Als Ssabae hat lueke eine Gruppe befreundeter Musiker:innen um sich geschart, die mit »Azurescens« einen Genres belächelnden Monolithen von einem Album in die Pariser Szene zimmern, der deswegen so unantastbar ist, weil er sich nichts beweisen muss. Jede Vocal-Passage, jede Saxofon-Line, jede Tempoverschleppung wirkt komplett improvisiert und ergibt gleichzeitig nur an genau dieser Stelle Sinn. Bleibt zu hoffen, dass Azurescens in den Presswerken nicht noch monatelang unter der nächsten streng limitierten RSD Picture Disc liegen bleibt.
Florian Aigner