Stellt euch vor, die Clubs machen wieder auf und niemand geht hin. Okay, ganz so desolat wie in der Live-Branche sieht es diesbezüglich in Technohausen nicht aus, aber trotzdem: Wir müssen reden. Über Trance, Trash-Pop und Nostalgie, über TikTok-kompatible Kurzzeit-Banger und müde HÖR-Memes. Sollten die vergangenen zweieinhalb Jahre nicht Anlass zu einer Inventur, das heißt Dance Music insgesamt den Anstoß zu mehr Innovation gegeben haben? Wir meinen: ja. Und sehen das aber weder vorne links auf dem Dancefloor noch auf den Endgeräten.
Die folgenden 20 von uns ausgewählten Vinyl 12″s sind deshalb auch als Statement, vielleicht gar Manifest zu verstehen. Obwohl sich darunter auch Spurenelemente konventioneller Techno- und House-Ansätze ausmachen lassen, handelt es sich im Gesamten doch um eine Auswahl, die Zukunftsperspektiven aufzeigen soll. Ob Azu Tiwaline & Al Wootton, DJ Plead oder Rhyw, Soreab und Yazzus sowie die üblichen Verdächtigen à la Objekt und Ploy: This is a new dance craze. Zumindest, wenn es nach uns geht. Kommt ihr mit auf den Dancefloor? Wird besser als jede Trance-Throwback-Party. Versprochen. Kristoffer Cornils
Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss: Patrick Gräser alias Answer Code Request veröffentlicht in nicht besonders hoher Schlagzahl. Wenn, dann kommt aber so etwas bei rum wie die »Shattering EP«, die bei den Holländern von Delsin im Juni erschien. Vier Tracks, bis auf die gerade Techno-Nummer »CRS-21« allesamt im typischen wie ziemlich singulären Breakbeat-Gewand des Berghain-Residents. Schon die ersten beiden Titel fächern als Antagonisten die emotionale Bandbreite auf, die Gräser zwischen seinen Kicks unterzubringen weiß: Verträumt und diesseitig, schwelgerisch und fordernd.
Maximilian Fritz Zur ReviewAzu Tiwaline hat bei uns sowieso immer einen Gästelistenplatz für alle Jahreslisten und Al Wootton … na ja, der auch. Und dann kommt das Ding auch noch auf Livity Sound! Eh klar, dass diese im Grunde nicht überraschende Annäherung der zwei Dub-Bass-Größen ein paar Überraschungen in petto hat. Angefangen mit einer nervenaufreibenden Etüde in Suspense-Building betreten die beiden auf »Alandazu« mit Umwege über Burnt-Friedman-eske Ausbrüche in Sachen Dub-umwaberter Grooves, Abstrakto-Drum’n’Bass und freudvollem Dark Ambient (!?) gemeinsam völlig neue Gebiete.
Kristoffer Cornils Zur ReviewDJ Plead ist immer ein No-Brainer, Livity Sound ist immer ein No-Brainer und doch triezt »Quick« das Gehirn. Der Track »Louca« könnte unser aller Lieblings-Dwarf from East Agouza anspielen und würde damit einiges erklären. Die verzahnten House-Grooves von »Come Quick«, der psychedelische Reggaetón-Vibe von »El Es« und die gleichermaßen bouncenden wie heillos miteinander verknoteten Melodien von »Skittles« machen noch einmal ganz andere Fässer auf. Also bitte Brain ausschalten, Füße anknipsen und hoffen, dass sie sich auf all dem zurechtfinden.
Kristoffer CornilsDigitale Spiegelkabinette. Auf der jüngsten EP »Club Sentimientos Vol. 2« des New Yorker Produzenten Brian Piñeyro alias DJ Python geht es vordergründig spartanisch und fast träge zu. Das allerdings mit reichlich halbverborgener Dynamik und sorgsam gehobelten Klängen, deren flüssige Künstlichkeit und polierte Oberflächlichkeit paradoxerweise für ausgeschlafene Ruhe und Tiefe sorgen. Besonders das zehnminütige »Angel« mit verlangsamtem Deep House bietet sich zum Eintauchen an. Für seinen Slo-Mo-Reggaeton gilt das ebenso.
Tim Caspar BoehmeWenn ich Tracks von Ido Plumes aus Bristol höre, denk ich mir: Wie arrangiert der Typ diesen Sound? Seine Ableton-Projekte müssen vollgekritzelten Tafeln in Vorlesungen über höhere Mathematik gleichen. Für Nicht-Eingeweihte vollkommen unverständlich, trotzdem amazing – im Ganzen halt ziemlich crazy! Führt dazu, dass man sich bei »Balancing EP« auf Livity Sounds vorstellen kann, wie man sich die vier Bänger gleichzeitig in der dunklen Kammer und unter vier Heizdecken verkrochen auf der Couch gibt
Christoph BenkeserDa muss »Something In The Water« sein, anders kann man sich diese musikgewordene Batik-Shirt nicht erklären. Khidja, rumänisches Rambazamba im Doublefeature, klöppelt sich für John Talabots Hivern Disc mit Lianenbrausen-House durch Donkey-Kong-Island. Zwischendurch leckt man an bunten Fröschen und zwirbelt sich den nächsten Eso-Cocktail in die Birne. Keine Frage: Die Platte ist wie gemacht, um beim 11-Uhr-Aufguss das Lasso zu schwingen.
Christoph BenkeserDeep House hittet auf Französisch einfach anders. Molly ist seit jeher eine verlässliche Produzentin emotional aufreibender und doch funktionaler Musik, »Favorite Cocktails« aber stellt ihr bisheriges Karriere-Highlight dar. Und zwar genau deshalb, weil dieser angeraute, dezent mit Patina bestrichene Deep House gleichermaßen reduziert wie aufreibend ist. Viele haben’s die letzten Jahrzehnte über versucht, nur Molly hat’s geschafft: Understatement so dermaßen overwhelming klingen zu lassen.
Kristoffer CornilsNicola Cruz ist in kürzester Zeit zum Weltstar aufgestiegen, der lateinamerikanische beziehungsweise indigene Musiktraditionen in den Clubkontext überträgt und trotz bahnbrechender Erfolge auf dem (Tanz-)Boden der Tatsachen bleibt – was auch heißt, dass er mit seinen Veröffentlichungen nicht auf Nummer sicher geht. »Self Oscillation« ist der beste Beweis dafür, dass sich Cruz mehr dafür interessiert, seine Musik auf ein neues Level zu bringen, als den eigenen Kontostand in die Höhe zu pegeln: Weirder als auf diesen sechs Stücken klang er selten.
Kristoffer Cornils Zur Reviewnthng ist ein Künstler, für den die englischsprachige Fachpresse nur zu gerne das Wort elusive verwendet. Eine Art Dub-Trance-Burial, der mit »Sub-Sonar« einmal mehr traumwandlerisch zwischen ätherischen Pop-Momenten – der Opener »Looking Outside« – und aufgepeitschtem, mustergültigem Techno – »Liberate Truth«, schlicht einer der schönsten Tracks der letzten Jahre – pendelt. In den letzten Jahren entstand um den niederländischen Künstler ein fast schon surrealer Hype, stilistisch vielseitige Platten wie diese rechtfertigen ihn in weiten Teilen.
Maximilian FritzJa, nun. Es ist die erste EP in dieser Serie seit fünf Jahren. Na. Tür. Lich. zeigt sie TJ Hertz in Hochform. Na. Tür. Lich. quetscht Objekt mehr wahnwitzige Ideen in jeden einzelnen Takt, als die meisten anderen im Laufe ihrer Karriere haben. Electro beziehungsweise Krautrock, Punk-Bassline und wildes Gesteppe hier, Minimal-Melodie, irrlichterndes Gefiepse und Gedröhne über Killasan-optimiertem Low-End dort: So aggressiv und überbordend, doch zugleich understated und feinsinnig klang Objekt noch nie und wird’s wohl nie wieder tun – weil die Nummer sechs schon wieder gänzlich anders sein wird. Mit den beiden Tunes in der UDG lässt sich da aber auch easy ein halbes Jahrzehnt drauf warten.
Kristoffer Cornils»Chop Wood, Carry Water« des australischen Trios Pleasure ist eine Vinyl 10-inch. Also hier an dieser Stelle irgendwie fehl am Platze… aber wo soll sie denn rein? Und sie musste rein. Denn die Platte ist einfach zu gut. Musikalisch eine Mischung aus Battles, Berg Sans Nipples und Roam The Hello Clouds, was allen, die instrumentale Rockmusik in den 2000er Jahren gehört haben, Freudentränen in die Augentreiben sollte. Dazu der Songtitel des Jahres: »Be Safe (You Can Get Naloxone In NSW Without Prescqription from any Pharmacy)«. Ein ernst gemeinter Hinweis der Band an jene Mitbürger, die nicht mehr von ihrem Opiate-Trip runterkommen. Musik kann Leben retten.
Sebastian Hinz»Unit 18« bezieht seine Inspiration aus der Soundsystem-Kultur und es donnert also gehörig auf diesen drei Tracks von Ploy. »Stinky« rattert aggressiv los, lässt Vocal-Loops mit Subbass und Percussion um die Aufmerksamkeit konkurrieren – auf all diese Elemente ließe sich jeweils anders tanzen. »Ninety One« verschränkt auf ähnliche Weise zwei Rhythmen miteinander und wartet mit ebenso vielen Breakdowns auf. Was soll da noch kommen? Na klar: Half-Time-Grime, Dubstep-Bässe, Hi-Hat-Gezischel, Handdrums und ein ominöses Flötensolo – und zwar alle in nur einem Tune. Der reine Irrsinn.
Kristoffer Cornils Zur ReviewAlex Tsiridis macht etwas ganz Besonderes, nämlich Techno kaputt. Nachdem »The Devil's In The Dlzlzlz« aus dem letzten Jahren noch mit wuchtigen Grooves arbeitete und sich als klares Jahres-Highlight empfahl, setzt »Honey Badger« die Akzente eher im Sound Design. »Kirkhusa« klingt ein wenig so, als hätte jemand aus dem Nyege-Nyege-Camp Mark Fell geremixt und der Rest … Na ja, eigentlich fast noch absurder. Wenn es nach Rhyw ginge, wäre Dance Music im Gesamten nach dem Lockdown-Eierlauf einmal komplett auf links gedreht worden – und die Welt also besser dran.
Kristoffer CornilsSchon mal von Sai Galaxy gehört? Ich auch net! Das Logo sieht zwar aus, als hätten sich Anthrax in Faltenhosen am Highlife-Style von Fela Kuti verbrochen. Der Sound beamt aber direkt ins Lagos von 1970. »Get It As you Move« ist die Debüt-EP von einem Aussie-Producer, der sich ein paar Guys mit Groove-Gespür gekrallt hat – und via Soundway Records eine Platte rausnudelt, bei der sogar Opa Hans zum Hüftschwung ansetzt. Bestes Kaugummi-Soul-Reissue, das kein Reissue ist!
Christoph BenkeserShackleton. Der Määän einfach. Was ist noch übrig geblieben von dem, was schon vor zwanzig Jahren geil war? ~guckt ernüchtert zu Kanye rüber~. Aber Shackis Herrschaft geht weiter, wahrscheinlich erstrahlt sie hier sogar so glorreich wie lange nicht. »The Majestic Yes« ist der bestmögliche Titel, weil man schon nach einer Minute des Openers nicht anders kann, als eben dieses, majestätische Ja dem Himmel entgegen zu seufzen. Diese Musik zapft die ganz geilen Rezeptoren an, im Geiste ist das Rave, im Bauch Dub.
Pippo KuhzartSoreab ist kein Produzent von Tanzmusik, er schreibt Soundtracks für Slow-Motion-Kampfsport. Nehmen wir »Drunken Balad«: Die Kicks verteilen Schwinger von rechts und links, die Percussion lässt die Beine um das Gegenüber tänzeln. Das Schöne an der musikalischen Poetologie von Dario Picchi liegt in ihrer Langsamkeit: Wo alle die Geschwindigkeitsregler hochdrehen, zieht er sie runter und den Bass stattdessen rauf. Modular-Verknotungen, ein veritables »Skeng«-Update mit dem MC Logan und der launische Dub von »The Sphere« schaffen dazu noch jede Menge Anknüpfpunkte an verschiedene Traditionen, ohne sich an deren Formsprachen zu bedienen. Einzigartig.
Kristoffer CornilsWenn ich Torus etwas vorwerfe, dann dass die vier Tracks auf »333 Mirrors« viiiiiiiiel zu kurz sind. Ich hätte mir die Veröffentlichung als Album gewünscht, gerne auch als 3-Stunden-Endlosdrift à la »Nils Frahm daddelt (wunderschön) an seinen Synthies herum«. Demenz-verwaschene Rave-Erinnerungen, verhalltes Wünschen nach Umarmung und rauschendes Unterwasser-Träumen in subkontinentalen Basswellen einer Post-Techno-Post-Ambient-vermutlich-irgendwas-mit-Drone-Welt. Der Soundtrack für die ökonomisch leer geblutete und in Infektionsangst erstarrte Clubkultur.
Jens PacholskyWie auch immer die beiden zueinander gefunden haben – Britain-based Producer TSVI und London-native Loraine James linken auf »053« ihre Laptops für einen Fünf-Track-Ride auf AD93. Das Piano klimpert über Grime-Beats, die Pads träumen sich ins Li-La-Launeland und schmeißen spätestens mit »Trust« mit prallgefüllten Tränensäcken um sich! Dazwischen stockt man den Ritalin-Haushalt auf. Prophylaktisch, eh klar – schließlich crashen hier Jungle-Chops auf Engels-Locken. Da bleibt nicht mal der Plattentitel gerade!
Christoph BenkeserUanamani sind Pete Namlooks uneheliche Söhne oder Donato Dozzys Drillingsbrüder, die nach der Geburt im Café del Mar verloren gegangen sind und von unserem Standpunkt nur noch mit dem Hubble-Teleskop erspäht werden können. Hä? Na gut, formulieren wir das verständlicher: Das spanische Duo hat sich einem dubbig-kosmischen Sound verschrieben, der in Sachen Stimmung, Sound und Speed so wunderbar an allen tagesaktuellen Techno-Konventionen vorbeiproduziert wurde, dass die Geste dahinter allein Jahresbestenlisten-worthy wäre. Das Resultat davon aber erst recht.
Kristoffer CornilsNach ihrem Debut auf der Tresor-Jubiläums-Compilation kehrt Yazzus mit ihrer Solo-EP »Black Metropolis« zurück. Die in Ghana geborene, in London aufgewachsene und mittlerweile in Berlin lebende DJ überzeugt mit ihrem vorpreschenden, modernen Sound, der sich durch schnellen Techno, Gabber und Ghetto Tech auszeichnet. Von verzerrten Bassdrums und entstellten Vocals in »Human Error Processor« bis hin zu energiegeladenen und vorantreibenden Ghetto House-Beats in »Metro City Bay Area«, bringt Yazzus eine unfassbare Euphorie sowie Liebe zum Detail in ihre Tracks mit ein.
Franziska Nistler