Aigners Inventur: November & Dezember 2022

03.11.2022
Unser stets angedoomter Kolumnist sieht in diesem November die Sonne um halb fünf untergehen, kippt sich schnell noch mit Gilles Peterson literweise Fusion-Suppe rein. Aigners Inventur: wie immer kein einfacher Stoff. Stattdessen haufenweise neue Schallplatten von Freddie Gibbs, Makaya McCraven, Loraine James, Lucrecia Dalt und sehr vielen anderen.
Billy Woods & Messiah Muzik
Church
Backwoodz Studioz • 2022 • ab 47.99€

So lange Ka seiner DIY-Strategie treu bleibt, kommen die nachhaltigsten auf Vinyl erscheinenden Rap-Alben nach wie vor entweder von Roc Marciano oder aus den Backwoodz Studios. billy woods lässt auf das immer noch kaum verdaute »Aethiopes« direkt »Church« folgen, ein Monolith von einer Autobiographie, metaphorisch dicht wie eh und je und von Produzent Messiah Musik mit einem Jazz-Verständnis gesegnet, dass über pure Loop-Lippenbekenntnisse weit, sehr weit hinausgeht. Novellenrap wie es ihn eigentlich zeitgeistlich gar nicht mehr geben dürfte.

Florian Aigner
Freddie Gibbs
$Oul $Old $Eparately
Warner • 2022 • ab 12.99€

Freddie Gibbs kommt schon mit dem Titel dem zu erwartenden Misstrauen gegenüber seiner Majorisierung entgegen, reicht aber mit »$oul $old $eparately« trozdem sein egalstes Album seit langem ein. Das liegt nicht unbedingt an Kaytranada oder James Blake, sondern eher daran, dass Freddie Gibbs sich seine Komfortzone so geschmackssicher eingerichtet hatte, dass jeder nicht The Alchemist oder Madlib assistierte Track nun mit dutzenden modernen Klassikern konkurriert. Ohne diese Bürde wäre das selbstverständlich ein absolut gelungenes Album.

Florian Aigner
A.G.
Giant In The Mental
ab 32.99€

Jedes A.G.-Album kommt mit der Erinnerung an das allererste Interview, das ich je geführt habe. Die eigene Cringiness in diesem Moment ausgeklammert, bleibt A.G. so für mich ein Avatar, dessen eigentlich recht belangloses neues Album »A Giant In The Mental« auf einmal zum Tribunal über jedes neue graue Barthaar wird. Immerhin würde ich fast zwanzig Jahre später nicht mehr auf die Idee kommen zu einem solchen Anlass in Merch aufzukreuzen.

Florian Aigner
Low Jack & Lala @ce
Baiser Mortel
PAN • 2022 • ab 26.99€

Von very 2002 zu very 2022. Dass Low Jack und die ganze BFDM-Crew in ihren Sets den bubblenden französischen Rap und R&B nie vernachlässigt haben, zahlt sich nun auch auf Produktionsseite aus. Low Jack ist mit seinen unterkühlten Riddims und hypermodernem Popverständnis genau der richtige Regisseur für Lala @ce, deren Post-Cloud-R&B auch zuvor schon unglaubliche Melodien ausgespuckt hatte, hier aber in Form von Baiser Mortel ein in sich geschlossenes Album vorlegt, das in der Garage Noord genau so viel Sinn ergibt wie auf TikTok.

Florian Aigner
Makaya McCraven
In These Times
XL Recordings • 2022 • ab 27.99€

Viel, viel konservativer, aber für Jazz-Maßstäbe immer noch recht frech ist Makaya McCravens »In These Times«, einem Album, das in manchen Momenten fast erfolgreich vorgaukelt, dass man den Verlust von Pharoah Sanders vielleicht doch irgendwann wird verkraften können, in anderen aber doch wieder diese cremige Fusion-Suppe anrührt, die sich Gilles Peterson immer noch literweise reinkippt. Dazwischen ein bißchen klassizistische MPC-Klopperei und fertig ist ein handwerklich nicht zu kritisierendes Album.

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MDCIII
Drawn In Dusk
De W.E.R.F. • 2022 • ab 26.99€

MDCIII haben schon vor einigen Jahren ein wenig beachtetes Album vorgelegt, das zum Peak des Fourth World Revivalismus erschien, Jon Hassell, Boards Of Canada und John Coltrane gleichermaßen verstand und trotzdem im vierstelligen Streaming-Bereich vor sich her dümpelte. »Drawn In Dusk« perfektioniert diesen Sound nun noch mehr, indem das Saxofon in all seinen fiebrigsten Varianten die zentrale Rolle einnimmt und oft nur perkussiv assistiert all jene Malariaklischees wiederbelebt, auf die man mit einer Pandemie vor der Haustür einfach auch zwei Jahre keinen Bock hatte.

Sebastian Hinz
Mister Water Wet
Top Natural Drum
Soda Gong • 2022 • ab 21.99€

Das Saxofon spielt auch auf dem Album-Highlight »A Whisper Wont Scale A Wall« von Mister Water Wet die Hauptrolle. Ansonsten stellt »Top Natural Drum«, wie es der Titel schon  erahnen lässt, aber eher die Perkussivität früher MoWax- und Ninja Tune-Platten ins Schaufenster, verzichtet aber auf die überkandidelte Bboy-Attitüde, die 1997 hier unumgänglich gewesen wäre. So klingt das stellenweise wie eine DJ Cam-Platte, auf der die richtige Hälfte der Spuren gemutet wurden.

Florian Aigner
NUG
Napping Under God
3XL • 2022 • ab 24.99€

Diesem Zugang nicht unähnlich, aber in Sachen Genre eindeutig eher Jungle beeinflusst inszenieren sich Florian Zeisig und PVAS als NUG (Napping Under God), den selbstdefinierten Ambient Jungle noch um diverse Warp-Einflüsse anreichernd und wunderbar analog klingend. Die stillen Passagen sind hier lauter als bei Sophia Louzou, die als moderner Referenzpunkt vielleicht noch am ehesten herhalten könnte, dafür fehlen hier - auch hier spoilert der Albumtitel - aber die ganz manisch exaltierten Momente.

Florian Aigner
Airchina
3.0
Italic • 2022 • ab 25.99€

Airchinas drittes Album »3.0« ist das erste, das vollkommen unabhängig von der medial doch recht lange durch Düsseldorf getriebenen Hype-Sau stattfinden darf; mittlerweile sind alle Salon-des-Amateurs-Querverweise und Think Pieces lange genug archiviert, so dass man Airchina wieder etwas mehr im luftleeren Raum besprechen darf, ohne außerdem alle acht Takte auf japanische Soundarchitektur verweisen zu müssen. Das entkrampft ein unverkrampftes Album nochmals deutlich.

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LSW
Mir Tut Alles Weh
Candomble • 2022 • ab 34.99€

Auch LSW sind dem Salon-des-Amateurs-Umfeld zuzurechnen, auch hier lässt sich auf Kritikerseite sofort jede Brücke von DAF zu TLT schlagen, aber »Mir Tut Alles Weh« ist eigentlich dann am besten, wenn man die hier präsentierte postmoderne Punkschnoddrigkeit und durchaus discoid-käsige Popsensibilität eben nicht durch Ratinger Hof-Labels unnötig verkompliziert.

Florian Aigner
Dale Cornish
Traditional Music Of South London
The Death Of Rave • 2022 • ab 29.99€

Dale Cornishs Traditional Music Of South London holt noch weiter aus, die einzige Klammer ist hier aber nicht wie vielleicht erwartet das Amen Break, sondern Cornishs multiperspektivischer Blick auf Queerness in London, musikalisch transportiert durch schroffen House, Avantgarde-Minimalismus und ja doch, Pop. Natürlich macht außerhalb von England niemand so eine Platte, erstaunlich ist aber wie unbritisch Cornish sich hier Club Musik nähert und sich doch immer wieder entschieden von ihr entfernt.

Florian Aigner
Moin
Paste
AD93 • 2022 • ab 23.99€

Raime werden auf ewig einen Vertrauensvorschuss bei mir genießen. Auch wenn die Dischord-Referenzen ihres zweiten Albums mit Valentina Magaletti als Moin mich nur über Umwegen erreichen und ich Fugazi et al. immer nur via Skate-Videos in Echtzeit rezipiert habe: alleine der gescrewte Math-Rock von »Forgettng Is Like Syrup« ist eine absolute Sensation. Eine logische Weiterentwicklung zum angedoomten Sound des zweiten Raime- Albums ist das ohnehin, Moin sind aber auf »Paste« dank ihrer ungebremsten Umarmung galoppierender Gitarren und Magalettis energischem Drumming noch näher dran an dem was Raime ohnehin live schon länger gewesen sind.

Florian Aigner
Authentically Plastic
Raw Space
Hakuna Kulala • 2022 • ab 24.99€

Rhythmisch vollkommen entfesselt ist »Raw Space« von Authentically Plastic, ein fast ausschließlich perkussiv arrangiertes Patternmassaker, die Hakuna Kulala-Version von Dolo Percussion, Slikback ohne Plug-Ins, eine Schallplatte so frei von Zwängen wie es Tanzmusik überhaupt sein kann und genau deswegen utopisch stark.

Florian Aigner
Loraine James
Building Something Beautiful For Me
Phantom Limb • 2022 • ab 22.99€

Konzeptionell bedeutungsschwangerer und deswegen für Loraine James’ Verhältnisse ungewöhnlich vorsichtig in manchen Momenten: »Building Something Beautiful For Me«, ein Konzeptalbum, auf dem sich Loraine James frei bei Julius Eastman bedienen durfte und aus dessen Katalog sowohl bekannte Stücke, als auch obskure Midi-Spuren neu interpretiert. Rhythmisch ist das zaghafter, lyrisch gleichzeitig hauptseminaresk und komplett kontemporär in seiner komplexen Auffächerung queerer Blackness.

Florian Aigner
Daphni
Cherry
Jialong • 2022 • ab 24.99€

Ich hätte Daphni nicht unbedingt ein authentisch wildes Ugly Edits-Album zugetraut, aber hier sind wir. »Cherry« ist die Miniatur-Form von Theo Parrishs legendärer Serie, aber anstatt repetetiver Transzendenz lässt Dan Snaith hier rasend schnell Tracks kommen und gehen, verirrt sich kurz in Richtung Winona-House, schiebt UK-Rave nach und kann dabei zu keinem Zeitpunkt ein feixendes Grinsen unterbinden. Ich gebe zu ohne den ganzen Caribou-Ballast mitzudenken, ist das wirklich eine total befreite Platte.

Sebastian Hinz
Ludwig A.F.
Air (2022)
Exo Recordings International • 2022 • ab 20.99€

Ludwig A.F., Frankfurter Techno- und House-Produzent mit prächtigem Haupthaar, umgeht derweil das Debüt-Dilemma mit einer Aneinanderreihung von Tracks, die er in den letzten acht Jahren produziert hat. Seifige IDM-Synths treffen auf durchgehend non-sinistere Breaks, »Air« bekennt sich voll und ganz zu den hymnischen und hedonistischen Elementen der Braindance-Ära und erreicht so zwar nie die Tiefe seiner Vorbilder (Mark Pritchard, Aphex Twin, FSOL et al.), aber eine durchgehend kribbelige Euphorie.

Sebastian Hinz
Liai
Pome (2022)
Quiet Time Tapes • 2022 • ab 25.99€

Noch cremiger und wenn überhaupt perkussiv dann mit Nap-Lizenz: »Pome« von Liai, einem Produzenten aus Chicago, der sich für 3XL, Motion Ward und Sferic vielleicht eine Spur zu brav durch seinen Halbambient dubbt, aber auch nie Gefahr läuft vom Algorithmus in die nächste Morning Yoga-Playlist abgeschoben zu werden. Pleasant ist das, einfach pleasant.

Florian Aigner
William Basinski & Janek Schaefer
»…On Reflection«
Temporary Residence • 2022 • ab 26.99€

William Basinskis Loops haben hingegen ja meist diese unterschwellige Anxiety, aber auf seiner Zusammenarbeit mit Janek Schaefer lässt er ausnahmsweise pure Harmonie zu. »…On Reflection« klingt wie eine Olafur Arnalds-Platte ohne das ganze Schmalz oder wie Laila Sakinis »Stasis« in der Oderstudienratsversion.

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Maxine Funke
Pieces Of Driftwood
Disciples • 2022 • ab 25.99€

Maxine Funke kompiliert nach ihre vielgelobten Album auf A Colourful Storm (Peroder von Time Is Aways »Ballads« nicht vergessen btw) auf »Pieces Of Driftwood« nun Raritäten, ergänzt durch unveröffentlichte Stücke. Das ist dann etwas weniger stringent als Seance, aber aufsummiert aufregender. Natürlich bleibt das Outsider Folk in bestem Sinne, hier aber ergänzt durch noch mehr Rauschen, höher eingestellte Drummachines und expertenhaften Shoegaze-Koketterien.

Florian Aigner
Alvvays
Blue Rev
Transgressive • 2022 • ab 30.99€

Puh, apropos Shoegaze. Alvvays durchleben mit »Blue Rev« gerade den Peak der Hypebubble, auch weil die Sehnsucht nach der Midaughts-Indie-Bubble mittlerweile nicht nur durch abgehängte Mitdreißiger, sondern auch den echten Zeitgeist getragen wird, mir fehlt auf »Blue Rev« aber genuin die Hittigkeit, die hier von TikTok bis Zeit Online überall krampfig herbeigeredet wird. Vielleicht blockiert mich mein Zynismus für diese Ära aber auch einfach nachhaltig.

Florian Aigner
Lucrecia Dalt
¡Ay!
Rvng Intl • 2022 • ab 26.99€

Bitte, bitte einen nachhaltigen Hyperzirkel für Lucrecia Dalt, die mit »¡Ay!« easily ihr bestes Album bisher veröffentlicht hat. Eine sensationell abgründige Pop-Platte, die Mambo, Merengue und »Twin Peaks« zusammenbringt. Lucrecia Dalts spanische Vocals, nach zahlreichen rein instrumentalen Arbeiten, sind selbst in Spoken Word-Passagen komplett fokussiert und zentral und geben ihren Songs hier ein ganz neues Gewicht.

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CS+Kreme
Orange
Thr trilogy Tapes • 2022 •

Moment! Denn urplötzlich ist da noch die neue CS + Kreme LP reingerauscht, der Nachfolger also zu einem der besten Alben der letzten zehn Jahre und dennoch so frei von Druck und Zwängen, dass man es fast frech finden kann, wie wenig sich Standish und Carmel hier um Struktur und Melodie scheren. »Orange« ist ein brillanter Impro-Monolith, Noir Jazz und postmodernem Krautrock ebenso verbunden wie elektronischem Experimentalismus, auf dem sich nach zwei Durchgängen nicht sofort diese glasklaren Peaks ausmachen lassen wie auf Snoopy. Stattdessen die Erkenntnis: ein Album, das einen jedes Mal so überwältigen wird, als hätte man es noch nie zuvor gehört.

Florian Aigner

Die Schallplatten aus Aigners Inventur

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