Wie Mulatu Astatke den Ethio Jazz erfand

21.07.2022
Er hat traditionelle äthiopische Musik mit Jazz verschmolzen und eine Musik erschaffen, die vertraut und fremd zugleich ist. Heute gilt er als einer der einflussreichsten Musiker der Welt. Sein Meisterwerk »Mulatu Of Ethiopia« (1972) ist in diesen Tagen 50 Jahre alt geworden. Eine Würdigung.

Bill fucking Murray natürlich. Der Liebling aller westlicher Menschen.
Es muss eigentlich nicht verwundern, dass über ihn die Visitenkarte eines ganzen Landes zwar nicht komplett verändert, aber doch erweitert wurde.

Nur die ganz Hippen kannten Mulatu Astatke vor Bill Murrays Heldenreise im 2005er Jarmusch-Film »Broken Flowers«, in dem Murray seine Exes abklappert. Murrays Charakter hat sich im Film gerade auf den Weg gemacht und rollt in einem Ford Taurus über irgendeinen US-amerikanischen Motorway – Sonnenbrille auf, Coffee-To-Go in der Hand – da legt er die CD ein, die ihm sein Nachbar für den Trip gebrannt hat. Winston, so dessen Name, hat äthiopische Wurzeln. Diese Herkunft wiederum schrieb ihm Jarmusch einzig und allein deshalb in die Biografie, um einen schlüssigen Grund zu haben, Mulatu Astatkes Musik als Soundtrack unterbringen zu können.

Duke Ellington ist baff

Entrückter Sonnenbrillen-Murray schiebt also den Rohling ins CD-Laufwerk des Mietwagens, »Yekermo Sew« fängt zu spielen an, und Millionen von Menschen im Westen sind mit einem Schlag um eine bzw. mehrere kulturelle Erfahrungen reicher: Dieser trance-artige Sound mit den leiernden Bläsern; der afro-kubanisch anmutende Rhythmus; das betörende Gefühl der Fremdheit bei gleichzeitiger Ahnung, das alles schon mal gehört zu haben – der Ethio Jazz hatte in ihr Leben gefunden.

Ganze drei Jahrzehnte nachdem Astatke ihn zum ersten Mal in einem Langspieler ausformulierte. 1972 erschien »Mulatu of Ethiopia«. Gerade ist dieser Meilenstein 50 Jahre alt geworden.

Der große Duke Ellington soll, einer oft übermittelten Anekdote nach, komplett baff gewesen sein, als Astatke ihm eine seiner Kompositionen vorspielte, damals, irgendwo in den Sechzigern: »I never expected this from an African«. Da war er nicht allein. Niemand in westlichen Hemisphären hatte das von »einem african« erwartet. Zum einen ganz einfach, weil man es tatsächlich nicht ahnen konnte: Was Astatke da komponiert hatte, das war wahrhaftig neu. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, aber das war seine ERFINDUNG, etwas bislang nicht Dagewesenes. Und zum anderen, weil das vorherrschende Äthiopien-Bild ohne Musik in den Westen geliefert wurde und wird. In den Nachrichten geht es ja um andere Dinge.

Wie erfindet ein Äthiopier ein eigenes Genre?

Zunächst wuchs Mulatu Astatke unter sehr guten Voraussetzungen auf.
In Äthiopien.

Es lassen sich mehrere Faktoren finden, die dem Land am Horn von Afrika eigen sind und die den Aufstieg Astatkes und folglich die Geburt des Ethio Jazz begünstigen. Man könnte da jetzt geschichtlich und soziologisch werden, aber das kann an dieser Stelle ja keiner wollen.
Deshalb hier verkürzt.

  1. Äthiopien blieb, bis auf eine kurze und schmerzliche Besetzung durch Mussolinis Italien, im Zweiten Weltkrieg unabhängig.
  2. Diese weitestgehende Abstinenz von externer Dominiertheit ermöglichte ein positives Verhältnis Äthiopiens zum Westen, das zur pro-aktiven Übernahme westlicher Bildungsideen führte und alle Bereiche des täglichen Lebens durchdrang.
  3. In Äthiopien herrschte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein gesellschaftliches Klima, das individuelle Entfaltung befürwortete.
  4. Aus unterschiedlichen historischen Gründen, die jetzt wirklich zu weitgehen und absolutes Name-dropping wären, kam es in Äthiopien über das 20. Jahrhundert hinweg zur Durchmischung traditioneller Musik mit großen, importierten, Bläserformationen.
Mulatu Of Ethipia Sessions, 1972

Das sind die groben historischen Begebenheiten, die den Weg für den Ethio-Jazz bereiteten. Jetzt noch kurz die biographischen.

Astatke hatte nicht nur eine Heimat mit einer expressiven Kultur und eine positive Beziehung zu anderen Kulturkreisen, sondern auch eine Familie, die Geld hatte. So konnte der junge Pionier mit 16 nach Nord-Wales ziehen, um dort Luft- und Raumfahrttechnik zu studieren. Überraschendes Fach, einerseits, andererseits passt es doch auch von Anfang an zu dem, was einige Jahre später folgen sollte: Die nämlich tatsächlich hochkomplexe – Stichwort: Rocket Science – Konstruktion des Ethio Jazz.

Beschleunigt wird die Entwicklung dadurch, dass die Waliser Schule ihren Schüler*innen die Freiheiten gestattete, auch andere Fächer auszuprobieren, u.a. Musik und Kunst.

Schnelldurchlauf durch die biographischen Eckpfeiler der darauffolgenden Jahre: Astatke bleibt auf Musik hängen, geht zum Studieren ans Trinity College nach London, etabliert sich in der Londoner Jazz-Szene und entwickelt dann den Anspruch selbst zu komponieren, Musik zu schreiben und vor allem äthiopische Musik international abzubilden. Er wird der erste afrikanische Student im Berklee College in Boston, Massachusetts, der damals einzigen Jazz-Uni weltweit.

Musiktheoretische Musiktheorie

Und da geht’s dann los. Astatke verwirklicht den Plan, ein neues Genre zu schaffen, indem er Methoden findet, äthiopische Musik und Jazz verschmelzen zu lassen. Das ist dann tatsächlich auch musiktheorethische Musiktheorie. In kurz: Er entwickelt eine Art und Weise, die Fünfton-Musik seiner Heimat mit der Zwölftontechnik zu paaren, auf der der Großteil westlicher Musik basiert.

Das Ergebnis ist ein Sound, der simultan gegeneinander und ineinander zu laufen scheint, woraus sich eine Harmonie bildet die… harmonisch und torkelig zugleich ist. Miles Davis auf einer Hochebene, über dem Dickicht, unter den Sternen, in Kontakt mit höheren Wesen.

Endlich in New York angekommen, baut Astatke sein Ethiopian Quartet auf, das vor allem aus Puerto Ricanern besteht. In den 1960er-Jahren nimmt es zwei Alben auf, »Afro-Latin Soul 1 & 2«.

1969 kehrt Astatke zurück nach Äthiopien, wo er 1972 »Mulatu of Ethiopia« einspielt und veröffentlicht. Jazz ist hier in ›Reinform‹ noch sehr präsent, genau wie die Einflüsse lateinamerikanischer Musik. Aber vor allem in den Bläser-Passagen bahnt sich das neue Genre, Ethio Jazz, bereits seinen Weg ins Zentrum; beschwörend, schief, hinreißend.

Feinschliff im Busch

Weitere Kniffe findet Astatke kurz danach. Im Busch.

Er unternimmt einen Field Trip, der seinem Sound den letzten Schliff geben wird. Im Süden Äthiopiens schließt er sich für einige Zeit dem Stamm der Darasha an und experimentiert mit deren Stilen. Die Musiker des Stammes spielen oktatonische Tonleitern. 24 Menschen die unterschiedliche Tonlängen in Bambusrohre blasen. 

1974 erscheint »Yekatit Ethio-Jazz«. Darauf auch das Bill Murray-Stück (ursprünglich allerdings tatsächlich schon ein paar Jahre vorher als Single erschienen), das wahrscheinlich auch Boomer in Oberschwaben kennen.

Es ist ein Trademark-Stück in Astatkes Discography, keine Frage. Astatkes Idee, die Zusammenführung von Kulturen durch musikalische Komposition, ist hier in Vollkommenheit zu greifen.

Das Stück basiert auf einem Horace Silver-Song, »Song for My Father«. Astatke modelliert den Rhythmus des Originals und dehnt dessen Thema auf das Interval einer Oktave aus, wodurch er es von seiner westlichen Herkunft entfremdet und fast unkenntlich macht, aber eben nur fast. So entsteht hier dieses umwerfende Zusammenspiel aus Vertrautem und Fremden. Musik, die den Puls einfängt und den Geist entlässt. Gut aufgehoben bei Jarmusch.

Unerhörte Klänge

Bemerkenswert auch der Instrumenten-Einsatz. Das elektrische Fender Rhodes führte Astatke persönlich in Äthiopien ein und machte sich damit Mitte der Sechziger nicht nur Freunde. Andere Geschichte. Auch der Einsatz einer Fuzzbox war natürlich unheard of bis dato, sie verzerrt den Sound entscheidend und lässt diese Trippyness entstehen, die »Yekermo Sew« so unwiderstehlich macht. Jarmusch nennt den Song nicht trippy, sondern findet eine andere Bezeichnung, die die halluzinogene Ebene ausklammert: Travelling Music. Damit trifft er ins Schwarze. Denn »travelling music«, das ist Astatkes Ethio Jazz nicht nur im Sinne einer atmosphärischen Kulisse, sondern in ihrem Kern.

Ethio-Jazz teilt sich klangliche Charakteristika mit Hard Bop und Modal Jazz auf der einen Seite und mit traditionell äthiopischer Musik auf der anderen Seite, wodurch ihm bereits die spezielle Übersetzung eines der integralen Bestandteile von Jazz-Musik im Allgemeinen gelingt: Dem Durchdrungen-Sein und Durchdringen von verschiedenen Herkünften und Kulturen.

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»Yekermo Sew« verdichtet Jahrzehnte von überkontinentaler Musikgeschichte in eine Komposition und verneigt sich ganz offen vor seinen Vorbildern und Vorfahren, wodurch Astatke ein Zugehörigkeitsgefühl ausdrückt, eine Verbundenheit mit der musikalischen Geschichte und seiner Akteure, hüben und drüben. Zuhause in der Geschichte. Ein nostalgischer Moment, der dem Song seine melancholische Kraft gibt. Und gleichzeitig ist da die Zukunft. Mit ihren Potentialen. Ausgedrückt durch das Nutzen neuer Technologien und über den Titel des Stücks: »Yekermo sew y∂blan«, heißt so viel wie »Möge er (Gott) uns alle zu Menschen des nächsten Jahres machen«.
Hier nicht als Drohung gemeint.

Mulatu Astatkes Transport-Musik verwandelt das Kommende in einen offenen Raum, den man mit der Ruhe und der Kraft, die einem der zurückliegende Weg ja auch gegeben haben kann, entgegen gleitet. Seit 50 Jahren ein Segen. 2022? Mehr denn je.

Mulatu Astatke & The Heliocentrics, 2010