Weshalb die brasilianische Musik ohne Arthur Verocai eine andere wäre

27.06.2022
Foto:© Far Out Recordings
Als »schlafenden Riesen« bezeichnete er sein Album. Dann sampelte MF Doom die Platte – und Arthur Verocai erlangte späte Bestätigung. Wer ist der Bossa-Nova-Musiker, ohne den die brasilianische Musik eine andere wäre?

1972 steckt Brasilien mitten in einer Militärdiktatur. Staatlicher Mord und die Folter von linken Oppositionellen bestimmen die Tagesordnung. Wer sich gegen die rechte Regierung stellt, verschwindet, ohne wiederzukehren. Im selben Jahr veröffentlicht der brasilianische Bossa-Nova-Musiker Arthur Verocai sein selbstbetiteltes Debüt. Zehn Stücke, 30 Minuten Spielzeit. Eine Liebeserklärung an eine musikalische Form, die Anfang der 1970er-Jahre bereits den Einflüssen aus Psychedelic-Rock und Funk – der Tropicalia – unterlegen war. Arthur Verocai, ein drahtiger Typ, der auf Fotos oft in der Rolle des Dirigenten zu sehen ist, hält jedoch zu Melancholie und Weltschmerz.

Bossa Nova, das stelle ein Stück weit brasilianisches Lebensgefühl dar. Eines, das er bis heute tief in sich trage, wie er uns im Interview erzählt. Dass »Arthur Verocai« über 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung wieder auf Plattentellern rotiert, ist kein Zufall, aber dem Riecher jener Personen zuzuschreiben, die das Album abgestaubt und durch Sampling ins 21. Jahrhundert gebeamt haben.

Dem Bossa Nova verfallen

»Als ich ein Kind war, lebte ich in einem Viertel namens Urca, direkt am Meer in der Guanbara-Bucht«, so Verocai, der 1945 zur Welt kommt. Von seinem Kinderzimmer aus sieht er die Christusstatue, vor ihm glitzert der Atlantik. Untertags dribbelt er mit einem Fußball durch die Gassen, »manchmal bis zum Strand«, so der Künstler. An anderen Tagen sitzt er im Wohnzimmer, hört die Platten seines Vaters oder lauscht, was aus dem Radio plätschert. »Oft liefen den ganzen Tag über Live-Musiksendungen, in denen ein großes Orchester verschiedene brasilianische Musikstile wie Samba, Bolero, Baião oder Foxtrott interpretierte.« Etwas, das den jungen Arthur Verocai fasziniert. Die Größe des Klangs, der aus einem kleinen Transistorradio rauschte, sollte ein Anhaltspunkt werden – für eigene Kompositionen und sein musikalisches Spiel.

»Während ich die Zeilen las, hörte ich mir an, wie die auf den Instrumenten geschriebenen Noten klangen und wie sie gruppiert waren. So lernte ich, wie diese Musik funktionierte.«

Arthur Verocai

Zum Bossa Nova, seiner großen Liebe, sei Verocai trotzdem durch jemand anderen gekommen. Seine Schwester habe in den frühen 1960er-Jahren Gitarrenunterricht bei Carlos Lyra bekommen, einem brasilianischen Musiker, der zahlreiche Klassiker des frühen Bossa Nova schrieb. »Ich hörte manchmal zu, verliebte mich in die Musik und begann, die Übungshefte meiner Schwester auszuleihen.« Ab diesem Moment lässt ihn das »Lebensgefühl« nicht mehr los. Er greift jeden Tag in die Saiten, nimmt bald selbst Unterricht. Zuerst bei einem anderen Granden des Bossa, Roberto Menescal, dann bei Darcy Vilaverde und Antonio Rebello. Später belegt er zusätzlich Harmoniekurse. Arthur Verocai ist zu diesem Zeitpunkt keine 16 Jahre alt.

»Ich wusste damals schon: Ich will Arrangeur werden«, so Verocai. »Allerdings gab es in ganz Rio keinen einzigen Kurs dafür. Deshalb beschloss ich, mir mein Ziel selbst zu erarbeiten.« Der Teenager tauschte Strand gegen Bibliothek, Fußball gegen Partitur. Unzählige davon besorgt er sich, allesamt von klassischen Komponisten des Bossa Nova. »Während ich die Zeilen las, hörte ich mir an, wie die auf den Instrumenten geschriebenen Noten klangen und wie sie gruppiert waren. So lernte ich, wie diese Musik funktionierte.«

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Während er Bauingenieurwesen studiert, sein »Plan B«, wie Verocai einmal zum Guardian sagte, bewirbt sich der junge Arrangeur mit seinen eigenen Kompositionen bei Musikfestivals. Mit 21 gelingt ihm ein erster Durchbruch – er arrangiert für die brasilianische Sängerin Leny Andrade, zu dieser Zeit ein kleiner Star in Brasilien. Mehrere Labels erkennen das Talent des Musikers. Verocai erhält daraufhin die Möglichkeit, für berühmte brasilianische Musiker wie Jorge Ben, Erasmo Carlos oder Ivan Lins zu arrangieren. Er erarbeitet sich hinter den Kulissen einen Namen, gilt bald als Meister der Magie zwischen Streichern und Hörnern. Seine Arrangements sind überall dort gefragt, wo Stücke ein melancholisches Gefühl des Vergangenen vermitteln sollen.

Die Sache ist politisch

Dieser Ansatz klingt damals – Bossa Nova war Anfang der brasilianischen 1970er Jahre schon längst ein alter Zuckerhut – nach lauen Sommernächten und bunten Drinks. Etwas, das auch Continental, seinem zukünftigen Label gefallen sollte. »Die Leute von der Plattenfirma kamen auf mich zu und fragten mich, ob ich ein Album aufnehmen wolle«, so Verocai. »Ich war begeistert, wollte allerdings volle Kontrolle über den kreativen Prozess haben, das war meine einzige Forderung – neben zwölf Geigen, vier Bratschen, diversen Celli, einer Trompete und einem Saxofon sowie einer Posaune, zwei Schlagzeugen, einem Klavier und einer Gitarre.« Zu seiner Überraschung akzeptiert Continental. Verocai steht plötzlich nicht nur vor der Herausforderung, ein Orchester zusammenzutrommeln, sondern daraus eine Platte zu quetschen.

Heute sagt der Komponist: »Ein gutes Arrangement ist das, was die Musik wachsen und größer werden lässt.« 1972 greift der 27-jährige Autodidakt dafür auf eine Schar an befreundeten Musikern und Weggefährten zurück. Sein Kumpel Vitor Martins, »ein Linker, der gegen die Militärdiktatur aufbegehrte«, schreibt zusätzlich die Texte. Sie greifen allesamt auf metaphorische Angriffe zurück, um die Zensur der Diktatur zu umgehen. Heute wie damals würde man dazu politische Gstanzln sagen. Eine einlullende Melodie verspricht die heile Welt, während man den Mächtigen heimlich den Mittelfinger in den Nasenflügel bohrt.

»Ein gutes Arrangement ist das, was die Musik wachsen und größer werden lässt.«

Arthur Verocai

Am Ende steht »Arthur Verocai«. Zehn Stücke, die aus dem Alltag ein Gedicht machen. Schließlich ist es weder das dissonant Verkopfte noch die ärgste Punk-Attitüde, mit der Verocai eine Message transportiert. Es ist vielmehr die schlichte Größe, die aus der Kombination verschiedener Stile und dem genialen Dilettantismus spricht. Auf dem Cover, das Continental für das Debüt drucken lässt, sitzt Verocai auf einem Hocker vor einer heruntergekommenen Hausfassade. Wie gebrochene Striche wachsen seine dünnen Beine in die Ewigkeit. Die Hände vor seinem Oberkörper verschränkt, signalisiert der Arrangeur gleichzeitig Ruhe und Distanz. Es ist ein Foto, das jemand im Vorbeigehen geknipst haben könnte. Eine spontane Aufnahme, die jene Unbedarftheit transportiert, mit der Verocai an die Platte heranging.

»Dabei war das Album damals überhaupt kein Erfolg«, so Verocai. Auch weil die Plattenfirma die Promo versemmelte, ignorierten Kritiker*innen sein Debüt. »Allerdings hatte ich ohnehin nicht die Absicht, Millionen von Exemplaren zu verkaufen. Ich wollte nur meine Musik machen, ohne dass sich jemand von außen einmischt.« Trotzdem sei es eine Zeitlang schwierig gewesen, den kommerziellen Flop zu verstehen. »Ich war traurig, weil meine Arbeit nicht anerkannt wurde. Mittlerweile weiß ich: Ich habe getan, was ich tun sollte. Und ich bereue nichts.«

Durch Samples wiederentdeckt

Nach der Ernüchterung tritt Arthur Verocai mit seinen Soloambitionen in den Hintergrund. Er komponiert und arrangiert zwar weiterhin mit Erfolg – unter anderem für Größen wie Gal Costa, Tim Maia und Azymuth – allerdings wendet er sich zunehmend von der Musikszene ab und liebäugelt mit einer Karriere in der Werbung. »Das Geld war gut, aber ich wusste, dass sich in diesem Umfeld niemand für die Musik interessierte, die ich machte. Deshalb bin ich wohl dortgeblieben. Ich wollte vor mir selbst weglaufen«, so Verocai im Guardian.

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Über 30 Jahre nach dem Release von »Arthur Verocai« legt das US-amerikanische Reissue-Label Luv N’ Haight das Debüt neu auf. Ein Teil der Hip-Hop-Szene entdeckt die Platte. MF Doom, Ludacris und Little Brother sampeln Songs wie »Na Boca Do Sol« – teilweise ohne jemals einen Cent dafür zu bezahlen. »Ich bin den Leuten trotzdem dankbar«, sagt Verocai heute. »Sie haben meine Arbeit spät bekannt gemacht.« So bekannt, dass Arthur Verocai 2009 sein Album live in Los Angeles einspielen kann. Zum ersten Mal seit den 1970er-Jahren – mit einem 30-köpfigen Orchester. Der schlafende Riese, der jahrelang kein Lebenszeichen von sich gab, sollte endlich erwachen.

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