»Ein erwachender Bass reibt sich den Schlaf aus den Lidern. Streckt sich im Morgenlicht und wärmt die Saiten. Die erste Melodie des Tages erklingt, während die Stadt die Augen öffnet«. So tippelte ich vor 20 Jahren in einem Text zum Album »Everyday« von The Cinematic Orchestra. Ohne es zu wissen, hatte ich damit eingefangen, was ein Jahr später erst Klarheit werden sollte: Dass »Everyday« auf Skizzen basiert, die aus der musikalischen Vertonung des 1929 entstandenen Films »Man With A Movie Camera«, entstanden waren.
Jason Swinscoe und sein Projekt The Cinematic Orchestra wurden zwar bereits im Jahr 2000 beauftragt, den wegweisenden Stummfilm des russischen Regisseurs Dziga Vertov auf dem Porto Filmfestival musikalisch live zu begleiten. Das Ergebnis war jedoch zunächst ein einmaliges Unterfangen. Und erst Anfang 2003, ein knappes Jahr nach Erscheinen von »Everyday«, sollte der Soundtrack nebst DVD erscheinen.
Dem Coltrane-Vibe auf der Spur
Überraschend stimmig an dieser Koinzidenz meiner Assoziationen und der Entstehung der Musik auf »Everyday« ist, dass Dziga Vertovs Film (ohne dass ich es zum damaligen Zeitpunkt wusste) genau mit solch einer Szene einer erwachenden Stadt beginnt. Jason Swinscoe hatte damit bereits sein Ziel bei mir erreicht: »Es gibt Filmmusik, die auch ohne den Film eigenständig existieren kann. Die die Idee einer Geschichte, einer Emotion und eines Gefühls weiter in sich trägt«, wie er im Jahr 2000 dem Planet Interview zu Protokoll gab.
Trotz des identischen Nukleus von »Everyday« und dem nachfolgenden Soundtrack »Man With A Movie Camera« bewahren beide Werke ihre Einzigartigkeit und damit ihre Daseinsberechtigung. Das eine kannibalisiert nicht das andere, ist kein zweitrangiger Abklatsch. Während meines Interviews mit Jason Swinscoe im Jahr 2002, kommt der Kopf des The Cinematic Orchestra immer wieder auf John Coltrane zu sprechen.
Die Musik war 60er. Der Sound war Gegenwart. Das Prinzip war Jazz.
Der Ausnahmesaxofonist und Jazzkomponist hatte über die vielen Jahrzehnte seiner Musikkarriere immer wieder den Standard »My Favorite Things« performt und sich »tausend Wege offen gelassen, die Strukturen des Songs neu zu kreieren«, wie Swinscoe erklärte. Die existierenden Live-Aufnahmen unterschieden sich häufig in wesentlichen Punkten. John Coltrane erhielt jedoch immer die Seele des Stückes am Leben. »It’s all that Coltrane vibe«, verlautbarte Swinscoe übers Festnetztelefon enthusiastisch das Prinzip von The Cinematic Orchestra. Die Musik war 60er. Der Sound war Gegenwart. Das Prinzip war Jazz.
Die Farbe macht das Werk
»Everyday« und »Man With A Movie Camera« formen damit eine Seelenverwandtschaft, die Eigenständigkeit bewahrt. Sie verbinden die dynamischen Pinselstriche und Bewegungen, die auch in Dziga Vertovs Film im Mittelpunkt stehen. Die Fluidität des Cineastischen, der Kamerafahrt, der Visualisierung von Bewegung und Emotion fließen durch ihre Adern. In den konkreten Ausfertigungen bleiben sie jedoch individuell.
Jason Swinscoe folgte damit einem Prinzip, dass er aus seinem Kunststudium und seiner Liebe zur konzeptionellen Kunst der 1960er und 1970er kannte. »In der Musik wie in der Malerei beginnt die Kreation nie mit dem Detail sondern der ersten Fläche«, beschrieb Swinscoe seinen Ansatz. »Der Gesamtfarbe, welche dem Werk die Seele verleiht. Die die Fähigkeit hat, den Betrachter zu berühren«.
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Nicht nur bot diese Gesamtfarbe, die sich an den Kamerafahrten Vertovs orientierte, Jason Swinscoe und seinen Mitstreitern die Freiheit und Orientierung, die Details der jeweiligen konzeptuellen Ansätze (Soundtrack vs. Studioalbum) unterschiedlich auszuarbeiten. »Man With A Movie Camera« spannte epischere, orchestrale Bögen, während »Everyday« häufig formal enger an der Songstruktur verlief. Letzteres wurde nicht zuletzt durch die großartigen Vokalist*innen Fontella Bass und Roots Manuva getragen, die einigen der Songs zusätzliche Seele verliehen.
Das Fundament der gefühlsbetonten Gesamtfarbe, auf der sich dann die Details der Musiker austoben können, macht die Musik des The Cinematic Orchestra auch absolut zugänglich, ohne ins Beliebige zu kippen. Denn bei all dem theoretischen und jazzhistorischen Background, bleibt »Everyday« vor allem eins: ein hoch emotionales Album, das berührt, verführt, ummantelt und überwältigt.