Zwischen 1959 und 1961 veröffentlichte der Saxophonist Ornette Coleman vier Schallplatten, die er zusammen mit dem Trompeter Don Cherry, dem Bassisten Charlie Haden und abwechselnd mit den Schlagzeugern Billy Higgins und Edward Blackwell für die Plattenfirma Atlantic Records in New York City einspielte. Produziert wurden sie allesamt von Nesuhi Ertugan. Diese Schallplatten sind die Annäherung an eine neue Form des Jazz, der sich durch die Aufgabe der vier-, acht- oder zwölftaktigen Form, den Verzicht auf vorgegebene harmonische Strukturen wie Akkordwechsel oder Tonarten, durch das Fehlen von Harmonieinstrumenten überhaupt und den Einsatz auch von Bass und Schlagzeug als melodische Instrumente knapp beschreiben lässt. Die Titel dieser Schallplatten lesen sich wie eine programmatische Prophezeiung: »The Shape of Jazz to Come« (1959), »Change of the Century« (1960), »This Is Our Music« (1960) und »Free Jazz« (1961). Natürlich war die mit Doppel-Quartett eingespielte, im Kollektiv improvisierte sechsteilige Suite »Free Jazz« das revolutionärere Album. Doch das am 1. Oktober 1959 erschienene »The Shape of Jazz to Come« kommt als Eröffnung dieser viergliedrigen Klimax eine besondere Stellung zu. Es markiert die Schwelle zu einem neuen Reich.
Sein Ansatz war kein politischer, sondern ein künstlerischer. Die auf »The Shape of Jazz to Come« erstmals konsequent umgesetzte Idee, war die einer betonten offenen, freieren, natürlichen, also ursprünglichen Auslegung der Jazzmusik.
Denn Jazz veränderte sich in diesen Tagen grundlegend. Und während ihres am 17. November 1959 begonnenen sechswöchigen Gastspiels im Five Spot, dem angesagtesten Jazzklub New Yorks, schauten die Größen der Branche vorbei. Miles Davis blickte scheelsüchtig auf Coleman, wissend, dass dieser ihm technisch vielleicht nicht das Wasser reichen könne, aber dass dessen Ideen die Jazzmusik fortan prägen würden. John Coltrane kam jeden Abend ins Five Spot, um das Quartett spielen zu sehen und nach den Shows packte er Coltrane am Arm und sie gingen in die Nacht hinaus und redeten und redeten. Die beiden wurden Freunde und Coltrane würde später sagen, dass die Erfahrung dieses neuen Jazz es ihm ermöglichte, unbekümmerter zu spielen. Sonny Rollins, zusammen mit Coltrane einer der führenden Saxophonisten dieser Zeit, ist durch die Musik von Colemans Quartett in die Sinnkrise geraten und verschwand zwei Jahre völlig von der Bildfläche. Dann tauchte er wieder auf, mit neuem, an Coleman ausgerichtetem Ansatz und neuem Quartett, zu dem nun eben auch Don Cherry und Billy Higgins gehörten. Schließlich waren auch Albert Ayler und Eric Dolphy Zeugen dieser Auftritte.
Über die Zustände, zurück zum Naturzustand
Jetzt kann man es sich leicht machen und den Akt der Befreiung von den Einschränkungen, welche die Jazzmusik bis zur Ornette Coleman bereithielt, mit seiner Biographie begründen. Coleman, 1930 in Fort Worth, Texas geboren, in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, in einem Milieu, das durch die Segregation geprägt war, liefert einen (hier nur kurz angerissenen) Lebenslauf, der genau dazu einlädt, Erinnerungen, die voll von Dingen sind, die einen eingeschränkt haben. Doch wäre das zu einfach. Und eben genau einfach ist die Musik von Ornette Coleman nicht. Die Dinge, die er suchte, waren auch nicht außerhalb der Grenzen aufzufinden, die ihm seine Lebensgeschichte setzte. Sein Ansatz war also kein politischer, sondern ein künstlerischer. Die auf »The Shape of Jazz to Come« erstmals konsequent umgesetzte Idee, war die einer betont offenen, freieren, natürlichen, also ursprünglichen Auslegung der Jazzmusik. Von den Romantikern wissen wir, dass wenn ein Kunstwerk viele Bedeutungen, viele Ansichten und Weisen verstanden und geschätzt zu werden aufweist, am interessantesten ist und ein reiner Ausdruck der Persönlichkeit. Eine Idee erscheint umso individueller und stimulierender, je mehr Gedanken, Welten und Haltungen in ihr sich kreuzen und zusammentreffen.
Die Abgrenzung Ornette Colemans von der auch in seiner Biographie liegenden Erfahrung ist demnach zunächst auch wieder nur die halbe Wahrheit. In der betont offenen Form seiner Musik kommt seine Individualität, seine Persönlichkeit umso deutlicher hervor. Und auch das afroamerikanische Erbe, das Coleman mit sich schleppt, liegt hier abrufbereit. Mit einer leicht abgewandelten Sentenz Friedrich Schlegels könne man sagen, dass die Welt des Jazz, wie sie von Coleman interpretiert wird, die durchaus entgegengesetzte Welt der Wahrheit (Geschichte) sei – und ihr eben darum so durchaus ähnlich wie das Chaos der vollendeten Schöpfung. Das führt uns zu der Ebene auf die Ornette Coleman in Selbstaussagen insistiert, hin zu einer Gesetzlosigkeit, zur Freiheit, zum »Naturzustand der Natur« (Friedrich Schlegel), der Zeit vor der Welt als alle gleich waren, jenseits von Rassenschranken, jenseits von Geld- und Besitzverhältnissen. – Von diesen Dingen kann uns die Musik von Ornette Coleman, kann uns »The Shape of Jazz to Come« auch mehr als 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung noch sehr viel berichten.