Labelbetreiber strömen in alle Welt, wühlen in staubigen Plattenkisten, und überhören dabei womöglich die Band, die auf dem Marktplatz spielt. Ob aus Nigeria oder der Türkei: immer mehr »exotische« Musik mischt den europäischen Markt auf. Nur ist diese selten aktuell. Dreißig Jahre alte Platten werden massenweise neu aufgelegt, neue Musik allerdings tröpfelt weiterhin nur vereinzelt nach Europa. Letztes Jahr fand die malische Band Songhoy Blues in den Medien statt; Brian Shimkowitz verhalf mit seinem Label Awesome Tapes From Africa dem ghanaischen Hiplife-Künster Ata Kak zu einem Comeback, der dadurch dieses Jahr zum Beispiel auf dem Sónar Festival spielen konnte. Es gibt noch weitere Beispiele. Aber nur sehr sehr wenige werden derart beachtet, wie Reissues einer 70er-Jahre Scheibe.
Begeben wir uns also raus aus dem spärlich beleuchteten Plattenladen. Raus auf die Straßen. Mitten ins Zentrum der Metropole Kairo. Das Einzugsgebiet miteinbezogen, wohnen hier ca. 20 Millionen Menschen. Es ist die größte Stadt der arabischen Welt, immer unter Strom. Vor Husni Mubarak, dazwischen und danach. Der Nil fließt durch die Stadt, kommt tief aus Afrika und mündet nur gut 200 Kilometer später im Mittelmeer.
Überquert man den längsten Fluss der Welt via der Brücke des 6. Oktobers landet man in Agouza. Ein etwas ruhigerer Stadtteil. Dem Herkunftsort der Zwerge, um die es hier gehen soll. The Dwarfs Of East Agouza eine Band, die alle Aufmerksamkeit verdient hat, die eines der bislang saftigsten Releases des Jahres veröffentlicht hat. Aus drei Musikern besteht die Band: dem US-Amerikaner Alan Bishop, Maurice Louca, in Kairo geboren und lebend, und Sam Shalabi, der in Alexandria zu Welt kam und im kanadischen Montréal lebt. Das musikalische Schaffen der drei Einzelnen zusammenzufassen, würde den Rahmen sprengen – und das Bild, das es von den Dwarfs zu zeichnen gibt, ist groß und bunt genug. Nur so viel: Jeder der drei Musiker hat in anderen Bands Alben veröffentlicht, Stile gemischt, experimentiert, und sich mit seiner Musik den Zuschreibungen »östliche« oder »westliche« Musik entzogen.
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Alles bleibt verändert
Das trifft auch auf »Bes« zu. Das gemeinsame Album der Dwarfs Of East Agouza platzt aus allen Nähten: Shaabi-Musik, afrikanisch anmutende Percussion-Rhythmen, Psych-, Krautrock. Klingt laut und unübersichtlich? Ist es aber nicht. Schon das Intro, »Baka Of The Future« klingt wie die Vertonung eines Ameisenhaufens: alles wahnsinnig, wuselig, dass da keine Köpfe gegeneinander rennen, ein Wunder. Doch alles wird von einer rhythmischen Grundstruktur organisiert. »Bes« ist wie die Stadt, die dieses Album durchdringt. Shalabi beschreibt sie wie folgt: »[Kairo] ist für mich entspannender als der stillste Tag in einer Hütte in New England, es liegt ein unglaublicher Frieden in all diesem Lärm. Vielleicht, weil er so gesättigt ist mit Dichte, Geräuschen und Farben, das er eine Art Trance erschafft. Gleichzeitig meditativ und intensiv, unter Spannung.«
Wenn Sam Shalabi die Stadt charakterisiert, könnte er dabei wahrhlich genauso gut über »Bes« reden. Ein Album, das in zwei Tagen entstand. Alles improvisiert, Netto-Aufnahmezeit: zehn Stunden. Die Drei wohnten im selben Haus, jeder in einer anderen Wohnung. Die Musik entstand im Zentrum der Stadt, im 100Copies Studio, einem Raum ohne Fenster, rot-orange. Wo alle Tag ein und Tag aus Kairo in sich aufsogen, sie schwärmen unisono von der Stadt, riegelten sie sich für die Aufnahmen ab.
»»[Kairo] ist für mich entspannender als der stillste Tag in einer Hütte in New England, es liegt ein unglaublicher Frieden in all diesem Lärm.«
Sam Shalabi
Sie seien in sich gekrochen, ergänzt Alan Bishop. Es ist schwer, den Dreien Anekdoten zu entlocken oder pointierte Aussagen, sie halten offensichtlich wenig von Gerede und scheinen außerdem zu denken: Die Musik, die es zu hören gibt, ist schon bunt genug. Nicht eine abgedroschen Phrase, nicht ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit fällt in ihren Antworten. So umgehen sie die Fragen nach Ritualen während der Aufnahmesession, nach Spiritualität. »Kann jetzt nicht die Zeit aufbringen, einen Essay zu schreiben«, antwortet Bishop auf die Frage, wie sich Kairo für ihn nach der Revolution verändert habe.
Die drei Männer sind viel herum gekommen, geografisch und auch sonst. Maurice Louca hebt den Durchschnitt an vorhandenem Haupthaar mit seinen schwarzen Locken gerade so über »nicht vorhanden«. Es sind nicht die Männer für Palaver.
Und »Bes« muss man nicht erklären. Es existiert einfach, als hätte es immer existiert. Man kann sich nicht vorstellen, dass es jemand in zwei Tagen erschaffen hat. Aber auch nicht, dass es eventuell nicht hätte existieren können. Das Album ist in seinem Inneren im stetigen Wandel, in jeder Wiederholung doch eine Bewegung nach vorn. Oft scheint in den Songs alles zu verändern – und trotzdem alles gleich zu bleiben.
Auch das ist: Kairo. Die für das Album titelgebende Gottheit muss die Stadt um 2000 v. Chr. erreicht haben. »Bes« ist eine panafrikanische Gottheit, die Ägypter übernahmen sie von Pygmäenvölkern aus Zentralafrika, wie sie auch die Musik als Einfluss zurück nach Ägypten brachten. Deshalb sieht man die Gottheit Bes oft mit einer Harfe. Sie steht als Symbol dafür, das Böse durch Singen und Tanzen fernzuhalten. »All das macht so viel Sinn im Bezug auf das, was wir machen«, schließt Shalabi.
Die Hitze flimmert in der ockerfarbenen Stadt, Sand und Smog, es ist surreal wie viel sich hier trotz der Temperaturen gleichzeitig bewegt. Es ist wohl die einzige Stadt der Welt, in der dieses Album entstehen konnte. Jeder sollte es hören, heute.