Wenn James Marcel Stinson nicht gerade Musikgeschichte schrieb, fuhr er Lastwagen. Er mochte das, es gab ihm Zeit zum Nachdenken. Ganz ähnlich floss seine Musik beharrlich geradeaus und war doch offen für Interpretationen, triggerte die Synapsen an. 1989 gründete Stinson das Projekt Drexciya welches inspiriert von Juan Atkins’ Electro-Band Cybotron die Energie von Wasser in Musik umwandeln sollte und auf einem afrofuturistischen Überbau fußte, der einerseits die Vergangenheit des transatlantischen Sklavenhandels als Grundlage für seine Mythologie nahm und andererseits eine neue Kosmologie im Geiste von Sun Ra und George Clinton ausformulierte. Drexciya rasten von Backbeats getragen auf der »Aquabahn« einer neuen Zukunft entgegen.
Bis zu Stinsons Tod an einer Herzkrankheit im September 2002 veröffentlichten Drexciya in einem Zeitraum von zehn Jahren eine Reihe von EPs auf Labels wie Underground Resistance, der Berliner Institution Tresor sowie Aphex Twins Rephlex und Warp bevor das Album »Neptune’s Lair« erschien und sie ihren bis dato größten Coup landeten: In nur einem Jahr schrieben Stinson und sein Drexciya-Kollege Gerald Donald genug Material für sieben Alben, die sie auf sieben verschiedenen Labels veröffentlichen wollten. Diese »Seven Storms« nahmen ihren Auftakt mit »Harnessed The Storm« von Drexciya, an dritter Stelle kam eines von Stinson Solo-Projekten neben Lab Rat XL und Transllusion: »Lifestyles Of The Laptop Café« von The Other People Place erschien Ende 2001 auf Warp.
In einem seiner extrem seltenen Interviews für Drexciya schrieb Stinson jedem der Seven Storms eine eigene Stimmung zu, die für sich genommen offen interpretierbar und welche miteinander ein holistisches Ganzes bilden sollten. ###CITI: Die Zeile »Let me be what I want to be« ist Ausdruck eines Verlangens, das traditionell einen Kern von House Music ausmachte…:### »Wir mussten ihnen eine eigene Identität geben, damit die Musik in ihrer eigenen Welt leben und atmen konnte.« Das deutet schon der Projektname The Other People Place an, das bringt der Name des Albums hervor und mehr noch, tut es das ikonisch gewordene Cover-Artwork von »Lifestyles Of The Laptop Café«. Darauf zeigt ein im Wald stehendes Apple-Powerbook das Bild eines Computermonitors, auf dem wiederum der Schriftzug The Other People Place zu sehen ist. Ein mise en abyme, eine selbstreferentielle Aussage über die Frage nach der Verschachtelung von Umwelt und Innenwelt, die im Zentrum von »Lifestyles Of The Laptop Café« stehen.
Der dritte der Seven Storms scheint wie ein wohltuendes Lüftchen, das sich mit seiner dezidiert warmen Klangsprache vom sterilen Acid-Futurismus des Drexciyanischen Werks deutlich unterschied. Mehr Vocals, mehr House-Vibes, mehr Soul strömt aus diesen acht Stücken, welche am Ende in den Zeilen »Relax your mind / slowly unwind / catch some rays / of the sunshine« zerfließen. Das Album wirkt, kurz gesagt, wie das Menschlichste unter denen sonst konzeptuell schweren Alben aus dem Umfeld des Drexciya-Gespanns Stinson und Donald. Oder es ist, anders gesagt, die gegenwärtigste unter diesen LPs, die aus einer mythisch überdehnten Vergangenheit eine neue Zukunft extrapolieren wollten und dabei die Zeit aus den Fugen hoben.
Idyllische Tracktitel wie »Moonlight Rendezvous«, »It’s Your Love« finden so ihre Kontrapunkte in anderen, ob nun das verletzliche »You Said You Want Me« oder »Running From Love«. Sie werden geflüstert, gecroont und gehaucht von manipulierten Stimmen, in denen sich noch Gefühle Bahn brechen und die trotzdem nie manifest werden, unwirklich klingen. Die Innenwelt, sie wird wie auf dem Cover von der Umwelt verschachtelt, undurchdringlich und fremd. Die »Lifestyles Of The Casual« werden an getrennten Tischen eines von Laptops besiedelten Cafés voneinander gelebt, in welcher die Kommunikation ständig im Fluss bleibt und keine Zeit zum Nachdenken lässt.
Stinson widmet sich tatsächlich einem Other People Place.
Einem Ort, in dem die Entfremdung so weit vorangeschritten ist, dass dahinter keine Identität mehr zu erkennen ist. Sondern nur ein gequältes Verlangen: »Let me be what I wanna be«. Wer im Laptop Café sitzt, träumt nicht wie bei einer langen Lastwagenfahrt alleine dahin, sondern ist mit seinem Verlangen allein und sich selbst fremd. »Lifestyles Of The Laptop Café« steht damit als Album an der Schwelle zur spätkapitalistischen Assimilation aller Lebensbereiche und insbesondere unseres Liebeslebens. Es ist Warnung einerseits und empathisches Bekenntnis andererseits. Es spricht von der Schönheit des Miteinanders und davon, wie bedrückend das ständige Nebeneinander doch sein kann. Doch die Hoffnung dringt zwischen jedem schnalzenden Snare-Schlag hindurch. Wir können hier noch heil rauskommen, flüstert es leise, oder besser: »Relax your mind / slowly unwind / catch some rays / of the sunshine«.The Other People Place: ein Ort, in dem die Entfremdung so weit vorangeschritten ist, dass dahinter keine Identität mehr zu sehen ist.
Das macht diesen perfekt ausdefinierte Hybriden aus beseeltem House und distanziertem Electro zu einem der vielleicht hellsichtigsten musikalischen Kommentare auf soziale Prozesse, die unserem Verlangen nach Identität im Wege standen und stehen. Nicht der einzige Grund, warum dieser Sturm auch anderthalb Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung immer noch mit solcher Gewalt tost. Denn vor allem ist »Lifestyles Of The Laptop Café« ein empathischer Appell dafür, die Grenzen zwischen den Menschen aufzuheben.