Aigners Inventur – April 2017

03.05.2017
»Damn.« ist wie Durant im Rucker Park, Actress gerade nochmal gut gegangen: Unser Kolumnist Aigner hat sich durch die Release im April gehört und weiß jetzt vor allem, welche Art von Musik er mit etwas mehr Talent selbt gemacht hätte.
Kendrick Lamar
DAMN.
Interscope • 2017 • ab 16.18€
Kendrick Lamar, best rapper alive. So viel war in der Theorie klar, aber erst nach »Damn.« kann ich das mit ruhigem Gewissen und einem guten Gefühl in Bauch und Herz auch unterschreiben. So wichtig der Vorgänger als akademisches Monument war, Kung Fu Kenny ohne erdrückendes Konzept, ohne Kontext-Zwänge und ohne die Last einer gesamten Community in jedem Vers zu schultern, ist wie Kevin Durant im Rucker Park Dabei mangelt es »Damn.« ja nicht an geflügelten Worten und Hauptseminars-Metaphern, aber so befreit den Lörres raushängen lassend, hat man Kendrick noch nie gesehen. Meisterwerk, ganz klar.

Joey Bada$$
AABA: All-Amerikkkan Badass
Cinematic Music • 2017 • ab 35.99€
Vielleicht hatte Joey Bada$$ auch einfach nur Pech, das Pech neben K.Dot nicht über das Praktikantendasein hinauszukommen. »All AmeriKKKan Bada$$« ist an sich eine sehr respektable Leistung für einen Rapper, dem das Rucksack-Urteil schon immer nicht gerecht wurde. Sommerliche Basslines stehen gleichberechtigt neben nicht uncleveren Aufarbeitungen einer gespaltenen Gesellschaft, Punchline-Brags neben mutigen Hooks und trotzdem nappt man sich, in bester J. Cole Tradition, hier eher pflichtbewusst Richtung Ende.

Ufo361
Ich Bin 3 Berliner
Stay High • 2017 • ab 19.79€
Im Anschluss zu argumentieren, dass Ufo361 ein besserer Rapper ist als Joey Bada$$ ist freilich völliger Nonsens und trotzdem wahr. Weil Ufo361 auf dem – natürlich zu langen – »Ich bin 3 Berliner« den aktuellen Amirap besser verstanden hat als der Rest des Landes. Am besten ist er dabei, wenn er gemeinsam mit Gzuz spielerisch leicht die Schnittmenge von 21 Savage und Prodigy findet, gut aber auch, wenn er den Snapchat-Rap von Lil Uzi Vert, Future’schen Nihilismus und Young Thugs Karikatur’n’B perfekt übersetzt. Dazwischen Füller, klar, aber als 10-Track-EP ein hierzulande ungekannter Tritt in die Tür.

Gorillaz
Humanz
Parlophone • 2017 • ab 31.99€
Zur Review
Gorillaz Alben sind und bleiben Hach-Nös. Wie immer fährt auch »Humanz« die absurdesten Kollaborationen auf, wie immer sind Gorillaz Hits fetter produziert, widersprüchlicher und geiler als die Konkurrenz-Not-Konkurrenz im Grammy-Kontext, wie immer gibt es visionäre Momente und jede Menge Raunen, aber auch wie immer ist das nach zweimal Hören wie ein Teil aus der »The Fast & The Furious«-Reihe mit Werner Herzog Voiceover. Es knallt und knallt, aber diese verkrampfte Albarn’sche Substanzgeilheit trägt einfach nicht länger als zwei Durchgänge.

Arca
Arca
XL • 2017 • ab 30.99€
Zur Review
Kommen wir schon wieder zur unaufhaltsamsten Naturgewalt kontemporären Art Pops – it’s Arca, Fickjungs, und er macht alles noch besser als zuvor. Optisch hatten die Vorabsingles zum neuen Album eh mal wieder Nine Inch Nails besser verstanden als alle anderen, aber auch musikalisch traut sich Arca weiter nach vorne in die erste Reihe kaputten Residue-Pops. Industrial ist immer am besten, wenn er das bleierne Herz hinter viel Blut und Schweiß versteckt und keiner weiß das mehr als dieser – sorry, man muss es ungefragt immer wieder betonen – schöne, junge Mann aus Venezuela. So nah dran das alles nicht nur hypothetisch geil zu finden, war ich bei Arca noch nie.

Actress
AZD
Ninja Tune • 2017 • ab 29.99€
Neue Actress Alben sind für mich der pure Stress. Weil ich als eingetragener Actress-Ultra immer erstmal die Befürchtung habe, dass Herr Cunningham nicht mehr Midas sein könnte, dass nicht jede Minute eines neuen Albums diese Gratwanderung zwischen manischem Genie und pedantischem Wahnsinn sein könnte. Jetzt ist es also passiert: »AZD« fühlt sich zum ersten Mal an wie eine Konsolidierung. Kein Quantensprung, keine Wendungen, die zittrige Knie provozieren. Stattdessen eine – für seine Verhältnisse – recht konventionelle Techno-Ouverture, blechern und artifiziell wie immer, viele Uralt-Electro-Einflüsse, hyperrepetitive Vocal-Schnippsel und gen Ende Weltuntergangs-Ambient. Soweit, so Actress. Im internen Alben-Ranking reicht das dann nicht fürs Podest, dafür aber mit zwei, drei Wochen Abstand für ein weiterhin schwer erleichtertes »Hach« meinerseits.

Second Woman
S/W
Spectrum Spools • 2017 • ab 16.99€
Seltsame körperliche Reaktionen löste dafür eh »S/W« aus, die neue von Second Woman, die good old Cornils so minimalistisch wie präzise für mich als SND in straighter zusammengefasst hat. So muss IDM-Klugschiss klingen, seltsam haptisch und gleichzeitig vollkommen entkörperlicht.

Jex Opolis
Ravines
Good Timin • 2017 • ab 16.99€
Vollkommen verfleischlicht klingt erwartungsgemäß Jex Opolis auf »Ravines«, einem Album, das sich vollkommen ungeniert im Mitt-Achtziger Boogie-Hedonismus suhlt und dabei auch nicht halt vor Sonnenaufgängen auf den – klar – Balearen macht. Manchmal vielleicht etwas unterkomplex in Stimmung und Arrangement, aber auch eine willkommene Zusammenfassung der fluffigsten Momente des Vancouver-Sounds.

Dopplereffekt
Cellular Automata
Leisure System • 2017 • ab 24.99€
Über Ambient zu schreiben, bleibt die Hölle, es sei denn Musik und Künstler liefern genug Assoziationsmaterial für uns Schmierfinken. Im Falle von Dopplereffekt ist das glücklicherweise einfach, mittenrein ins 15. Drexciya-Revival platzt nämlich »Cellular Automata«, ein (quasi) beatloses neues Album von Gerald Donald, der sich hier irritierenderweise mal nicht Heinrich Mueller nennt. Und weil die Dopplereffekt-Geschichte, mit all den üblichen historisch-dystopischen Referenzen, immer eine des Unwohlseins gewesen ist, ist auch dieses Album so weit weg von tumber Berieselung wie Ambient nur sein kann.

GAS
Narkopop
Kompakt • 2017 • ab 51.99€
Danke auch an Wolfgang Voigt, der es für immer unzulässig gemacht hat über Gas zu schreiben, ohne die Wälder Kölns zu erwähnen. Dabei ist »Narkopop« im Vergleich zu den kanonisierten Gas-Platten nur noch unzureichend mit Tannen, Füchsen und Morgentau zu beschreiben, zu philharmonisch arrangiert der große Kunstkopf Kölns hier. Das ist 4K-Soundtracking und muss sich nicht vor den aktuellen Granden, von Johann Jóhannsson bis Ryuichi

Sakamoto verstecken. Trotzdem vergisst Voigt zu keiner Zeit was dieses Projekt schon immer auszeichnete: diese dunkle Vorahnung, dass zwischen all der knisterigen Loop-Melancholie irgendwo immer der Verfall lauert. Kunscht, klar, aber ey, dann gerne immer so.

V.A.
Mono No Aware
Pan • 2017 • ab 25.99€
Und nochmal Ambient, der keiner ist. »Mono No Aware« widerspricht so ziemlich allem was sich Eno damals bei der Götterdämmerung des Genres gedacht hatte. Egal, ob Yves Tumor, M.E.S.H. oder Bill Kouligas selbst: hier werden keine Flughäfen bespielt, das hier sind halluzinogene Identitätskrisen, in denen die Sonne früh untergeht und Augenringe tiefer hängen als die Unterlippe. Man hätte sich eine Ambient-Compilation auf PAN also nicht besser ausdenken können.

V.A.
Miracle Steps Music from the Fourth World 1983 - 2017
Optimo Music • 2017 • ab 19.99€
Ich muss mich ja monatlich zwingen uns nicht selbst die Butter vom Brot zu nehmen, indem ich unsere halbjährliche Reissue-Kolumne an dieser Stelle mit alter Musik torpediere. Aber da »Miracle Steps« auch neue Musik aus diesem Jahr enthält, muss das ausnahmsweise erlaubt sein. Und weil bei Optimo immer noch supere Typen arbeiten, ist diese Zusammenstellung so ziemlich das beste was (mir) hätte passieren können: verpeilter Ethno-Wave, tribaleske Proto-Salon-Workouts, New Age ohne Peacezeichen und Fußpilz. Oh und wenn ich einen Funken Talent und viel mehr Geduld hätte, würde ich heute vermutlich die Musik machen wollen, die O‘ Yuki Conjugate schon vor 30 Jahren gemacht haben.

Nocow
Ledyanoy Album
Gost Zvuk • 2017 • ab 20.99€
Apropos Talent: schön übrigens auch, dass Nocow einfach zu viel davon hatte, um ewig ein sehr guter Burial-Epigone zu bleiben. Diese Erkenntnis ist nicht neu, wie befreit wie er aber auf »Ledyanoy« seine eigene Identität feiert, schon. Da rumpelt zwischen vertrippten Arpeggios ein Garage Beat los, Autechre spielen Schach mit Carpenter und mittendrin stehen wir auf einmal kurz auf den Pollerwiesen und wissen nicht wie wir dort hingekommen sind. Voll okay was hier passiert.

Mr. Mitch
Devout
Planet Mu • 2017 • ab 9.99€
Zur Review
Geduld – Mr. Mitch hat Grime etwas geschenkt was er unbedingt brauchte. Aber nachdem die gute Seele des Genres seine Peace Dubs mit »Parallel Memories« dramaturgisch perfekt in einer Album-Utopie kulminieren ließ, musste etwas passieren. So ist »Devout« nun der ach so übliche und ach so schwierige Schritt hin zum ausproduzierten Song. Das kann für Innovatoren gutgehen (siehe Andy Stott), aber selbst bei Stott ist nicht jede Zusammenarbeit mit Vokalisten davor gefeit ins Bristol-Fettnäpfen zu treten. Mr. Mitch gelingt dies weitgehend, an manchen Stellen aber zieht er sich damit selbst die Zähne.

Phew
Light Sleep
Mesh-Key • 2017 • ab 23.99€
Geständnis: ich habe Suicide viel zu lange ignoriert, dafür bin ich mir Stand heute relativ sicher, dass Alan Vega und Martin Rev die beste Band der Welt waren. Kein Wunder also, dass in meiner aktuellen Manie jede Platte, deren Beipackzettel Suicide erwähnt, erstmal gewonnen hat. Kommt diese Platte auch noch von einer alten Bekannten, der japanischen Can-Kollaborateurin und überhaupt rumdum wichtigen Phew, wird auch 2017 noch blind gekauft. »Light Sleep« ist erwartungsgemäß nichts für Harmoniebedürftige, Phew rotzt ihre unkonventionellen Vocals über teilweise erdrückende Noise-Wände, bevor tatsächlich Martin Revs DIY-Synthpark verschmitzt um die Ecke schielt. Ach ja, Phew ist übrigens 57, ihr Lullis.

Future Islands
The Far Field White Vinyl Edition
4AD • 2017 • ab 17.99€
Was macht man nach einer Platte, die sich eigentlich auch direkt einen Imperativ im Titel hätte gönnen können? Genau, mehr »Singles(!)«. Future Islands und hier natürlich insbesondere Semi-Celebrity Samuel T. Herring mögen pro Forma wieder etwas zurückhaltender geworden sein seit der Halligallisierung des Vorgängers, aber ach komm, auch »The Far Field« weicht keinen Zentimeter von der patentierten Formel ab. Im Falle von Future Islands ist das gut, kaum jemand schafft es mit solch schwülstigem Gitarrenpop so zuverlässig Insulin ins Publikum zu feuern wie das Trio aus Baltimore. Mag an der Stimme liegen oder an diesen jauchzenden Melodien, ich bin auf jeden Fall bereit für noch locker drei Alben.

Timber Timbre
Sincerely, Future Pollution Black Vinyl Edition
City Slang • 2017 • ab 21.99€
Und direkt der nächste 2014er-Throwback. Timber Timbre vögeln immer noch am liebsten im Morgengrauen in pompösen Altbauten mit knarzendem Fischgrätparkett während Agent Cooper im Hintergrund Kaffee schlürft, aber es gibt schlimmere Band-Manifeste. »Sincerely, Future Pollution« wäre als zweites Album ein ganz großer Wurf, in der tatsächlichen Chronologie fügt es dem morbiden Chanson-Pop der Band nicht mehr arg viel hinzu.

Die hier vorgestellten Schallplatten findest du auch bei uns im Webshop.