Records Revisited: A Certain Ratio – To Each, 1981

29.11.2017
Man ruft A Certain Ratio gerne als musicians‘ musicians. Warum? Weil sie mit einem typischen Übergangsalbum zeigten: Wo Dinge unabgeschlossen sind, bleibt genug Platz für andere, um sich zu eigenen Lösungen anregen zu lassen.

Bei A Certain Ratio muss man ja im Grunde erst einmal daran erinnern, wer die überhaupt waren. Gehörten zwar in Manchester zur unmittelbaren Nachbarschaft ihrer Kollegen Joy Division und waren neben denen eine der ersten Bands auf dem Factory-Label, wurden aber nie zu einer annähernd legendären Institution wie die Post-Punk-Helden um Ian Curtis. Zwar landeten ACR, wie sie liebevoll abgekürzt werden, mit ihrer ersten Single »Shack Up« in den R&B-Charts der USA immerhin unter den Top 50. Doch Hits im engeren Sinne gab es ansonsten keine.

Dabei ist ihr Einfluss auf andere Bands beträchtlich. Die Talking Heads LCD Soundsystem Franz Ferdinand oder die Red Hot Chili Peppers bekamen von ihnen entscheidende Impulse, um nur ein paar aufzuzählen. Nicht auszuschließen, dass auch Liquid Liquid oder Palais Schaumburg sich die eine oder andere Idee von ACR abgelauscht haben.

Was ACR von Anfang an – sie gründeten sich 1977 – von den ein Jahr zuvor ins Leben gerufenen Joy Division unterschied, war ihre Mischung aus Post-Punk und Funk, was gern zum Markenzeichen »Punk-Funk« zusammengefasst wurde. Womit man aber die dezente Gothic-Komponente herauskürzt, die besonders am Anfang für ACR charakteristisch war. Ihr Debütalbum, 1979 als Kassette veröffentlicht, hatte das schon im Titel auf den kürzestmöglichen Nenner gebracht: »The Graveyard and the Ballroom«.

Mit ihrer Platte »To Each …« sollte sich das 1981 zunächst geringfügig ändern. Für die Aufnahmen war man eigens nach New York gereist, durchaus in strategischer Brückenschlagsabsicht. ###CITI: Vielleicht war Manchester mit seiner hohen Arbeitslosigkeit ja ein fruchtbarer Boden für diesen nasal-apathischen Tonfall.:### Dort kreuzte man ja auch gern New Wave und Funk. Der Ballroom bekam bei ACR jetzt deutlich mehr Anteile eingeräumt, auch wenn der damalige Sänger Simon Topping in seinem Timbre immer noch stark an Ian Curtis erinnerte. Vielleicht war Manchester mit seiner hohen Arbeitslosigkeit ja ein fruchtbarer Boden für diesen nasal-apathischen Tonfall, den beide für sich beanspruchen können. Ein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal ist hingegen der Trompeter Martin Moscrop, und auch der Bassist Jeremy Kerr erinnert wenig an den singenden, von Peter Hook patentierten Bass bei Joy Division. Jeremy Kerr bewahrte dafür mit heldenhaftem Einsatz den Slap Bass vor der Fusion-Klischeehölle, mit einem erdverbundenen Klang, holzig im Abgang. Auch das Schlagzeug von Donald Johnson darf nicht unerwähnt bleiben, ohne dessen präzise Beweglichkeit Kerrs Bass sich kaum angemessen hätte entfalten können.

Die Kritik hat an »To Each …« mitunter bemängelt, dass die Funk-Anteile und gesteigerte Musikalität in der Produktion von Martin Hannett nicht so recht zum Vorschein kamen. Dass die Platte damit in vieler Hinsicht stärker in Post-Punk-Formeln feststecke als nötig. Man kann darin aber auch eine Stärke sehen. Ein bewusstes Lücken-Füllen nicht aus Unentschlossenheit, sondern als Konzept.

Dass sich ACR ohnehin nicht auf die einfache Punk-Funk-Formel reduzieren lassen wollten, deutet sich besonders im letzten Song von »To Each …« an. »Winter Hill« ist ein knapp dreizehnminütiger Monolith, der mit tribalistischer Perkussion über einem Bass-Drone und auf Zeitlupentempo gedehnten, leicht verzerrten Gitarrentönen, die sehr behutsam Earth oder Sunn0))) andeuten, einen ganz anderen Raum aufmacht als der Rest des Albums. Hier wäre für die Band unter Umständen noch mehr zu entdecken gewesen. So oder so ein großartiger Abschluss.

A Certain Ratio
To Each ... Red Vinyl Edition
Mute • 1981 • ab 25.99€
ACR sollten später ihre Funk-Fertigkeiten weiter aufpolieren und insgesamt deutlich sauberer klingen. Vom Post-Punk blieb da irgendwann nicht mehr viel übrig. Das mag manchen besser gefallen haben. Auch der Weggang von Simon Topping – Bassist Jeremy Kerr ersetzte den früheren
Frontmann mit hellerem, Pop-tauglicherem Gesang – könnte für einige Hörer einen Zugewinn auf dem Weg zum Mainstream bedeutet haben. Ein Verlust war es rückblickend gleichwohl.

Man kann »To Each …« als ein typisches Übergangsalbum bezeichnen. Doch eines, in dem sich weniger Zaghaftigkeit ausdrückt als vielmehr ein Angebot, das sich in vielfache Richtungen weiter denken lässt. Womöglich ist gerade dieses nur Teildefinierte, ist der Zwischenstatus der Musik ein Grund dafür, dass ACR als musicians’ musicians so wichtig wurden. Wo Dinge unabgeschlossen sind, bleibt genug Platz für andere, um sich zu eigenen Lösungen anregen zu lassen.