Wir schreiben das Jahr 1965. In Chicago, der windy city am Lake Michigan, brodelte es schon länger: In Detroit buchte man mit Motown Charts-Plätze en masse, in New York versammelte sich die Elite des Jazz‘ um sowohl den Hard Bop als auch den gerade brachial einschlagenden Free Jazz zu perfektionieren. Chicago war da gefühlt abgehängt. Aushängeschild war Chess Records – und dieses Label wartete auch seit zehn Jahren auf eine Nummer, die mehr als eine Millionen Tonträger verkaufen konnte. Das sollte sich schlagartig ändern, als die 25jährige Sängerin Fontella Bass mit »Rescue Me« einen der besten R&B -Songs aller Zeiten veröffentlichte. Fontella Bass war außerordentlich begabt – und vor allen Dingen nicht bloß Stimmband, sondern eine stolze und schlaue Künstlerin. »Barry Gordy-hafte« Geschäfte waren mit ihr nicht zu machen. Viel mehr interessierte sich die Sängerin neben der eigenen Karriere noch für die »Clique« in der sich ihr Mann Lester Bowie aufhielt. Dieser war gerade Teil der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) geworden: Ein loser, aber äußerst produktiver Zusammenschluss von Chicagoer Künstlern. Ein Nährboden auf dem schon bald die ersten Blüten sprießen sollten. Clubs und Bars schlossen sich zusammen, Künstler tauschten sich aus, eine Community entstand. Phil Cohran und Maurice McIntyre waren nur zwei von vielen.
Um den umtriebigen Holzbläser Roscoe Mitchell firmierte sich nun ein Sextett, das unter anderem aus Lester Bowie, sowie aus Joseph Jarman, Malachi Favors und Phillip Wilson bestand. Im Mittelpunkt stand die Frage, was Jazz überhaupt leisten kann. Zwar lehnte man Free Jazz nicht ab, doch krempelte das Sextett, das 1968 zum Art Ensemble of Chicago wurde, ihn einfach um. Es verband die freie Spielart mit kompositorischen Kniffen, bediente sich gleichwohl bei der Neuen Musik eines Arnold Schönbergs, den künstlerischen Stücken John Cages, aber eben auch bei den Vorgängern des Jazz bis hin zu den Wurzeln, die auf den Feldern der Südstaaten als auch in der afrikanischen Herkunftsländer der Ahnen, lagen. Ein Meisterwerk, der an Meisterwerken nicht armen Diskografie, ist dabei der Soundtrack »Les Stances a Sophie« zum gleichnamigen Film von 1970. Die Band hatte es mittlerweile nach Europa,im speziellen nach Frankreich verschlagen. Das Instrumentarium – genauso wie Bühnenoutfits, Melodik und Rhythmik – war derweil eindeutig vom afrikanischen Kontinent beeinflusst.
Die Schallplatten des Art Ensemble Of Chicago findest du im [Webshop von HHV](https://www.hhv.de/shop/de/art-ensemble-of-chicago-jazz-fusion/i:A40005D2N48S6U9.)
Die Vereinigten Staaten waren zu klein geworden für das Ensemble, das sich mit berauschender Geschwindigkeit weiterentwickelte. Über 33 Minuten spielt sich die Band auf der Platte in einen wohlgepflegten Rausch. Schon der Opener »Theme de Yoyo« zeigt die Wucht einer Band, die sich nicht etwa auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt. Im Gegenteil werden die Eigenheiten des Spiels gepflegt, konzentriert und kultiviert. Hier hört man – wie auf so vielen Aufnahmen bis weit in die 1990er Jahre hinein – eine Band, die noch jede Grenze sprengen mag. Afrikanisch-pentatonische Bläsersätze wechseln sich ab mit Neo-Dixie-Sounds, Free-Form und Bop – und dazu singt eben Fontella Bass, die während des selbstgewählten Exils in Europa Teil der Band wurde.
Doch der Blick zurück ist nie wehmütig:Kurz vor dem Ende der Platte ertönt für drei Takte eine Reminiszenz auf »Summertime« aus »Porgy & Bess«. Nicht nur die erste amerikanische, sondern auch – gleichwohl von einem amerikanischen Juden geschrieben – eine durch und durch afroamerikanische Oper.Ein Meisterwerk, der an Meisterwerken nicht armen Diskografie, ist dabei der Soundtrack »Les Stances a Sophie« zum gleichnamigen Film von 1970.
Verortet – wenn das Art Ensemble Of Chicago nicht sogar das Genre mitbegründet hat – wird das alles im Avantgarde-Jazz. Gleichzeitig war eine Avantgarde zu formieren nie wirklich ein Ziel. Die Grenzen des Jazz wurden vielfach gesprengt und weiterentwickelt; doch das folkloristisch-musikalische Erbe war im gleichen Maße Aufhänger für die stetige Evolution des Sounds. »Message To Our Folks« nannte Paul Steinbeck seine mittlerweile zwei Jahre alte Monografie zum Art Enemble Of Chicago. Ein grandioses Buch, das dennoch – trotz der über 300 Seiten – kaum in der Lage ist das gesamte Werk einzuordnen. Einige Verbindungen sind jedoch offensichtlich: Idris Ackamor und The Pyramids sind unmittelbar beeinflusst wurden, Sun Ra wahrscheinlich mittelbar. Nicht vergessen sollte man John Zorn, der entlang der afroamerikanischen Emanzipation durch das Art Ensemble Of Chicago Anfang der 1990er Jahre die »Radical Jewish Culture« entwarf und propagierte. Hier nahm dann Klezmer die Rolle der afrikanischen Folklore ein – die Gemeinsamkeiten sind dennoch unverkennbar.
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