Nicht weniger als die Verschmelzung von verkopften elektronischen Sounds und Pop versprachen die ersten Alben von Björk. Und für manche Leute noch mehr: »Was auch immer an Björks Musik nordisch sein mag, durchläuft den Filter ihrer persönlichen Kreativität und bedient sich an Dance Music, elektronischer Avantgardemusik, Kompositionen des 20. Jahrhunderts, zeitgenössischem R&B, Jazz, Hip-Hop und so gut wie allem, was es unter der Wintersonne sonst noch so gibt«, schrieb der US-Musikkritiker Alex Ross 2004 einmal. Bis heute hält sich die Hoffnung, dass Björk Guðmundsdóttir der Missing Link zwischen Pop und Avantgarde sei. Was die Künstlerin selbst so ausgibt. Doch gerade das vierte Album der Isländerin stellte diesen Glauben auf die Probe.
Der große Durchbruch schien für Björk um die Jahrtausendwende bevorzustehen. Mit »Dancer in the Dark« gab sie ihr gefeiertes Schauspieldebüt (und lieferte gleichzeitig den fantastischen Soundtrack), ihr drittes Album »Homogenic« und dessen experimentelle elektronische Sounds wirkten noch nach. Sie gab der Kritik das Gefühl, dass Musik doch noch große Dinge vollbringt. Und dann erschien »Vespertine« am 27. August 2001. Unterkühlte Beats und doch trotzdem Emotion durch und durch. Ein Beben fürs Herz. Eine Enttäuschung für Freunde progressiverer Sounds.
»Obwohl ›Vespertine‹ unbestreitbar schön ist, gelingt es Björk nicht, der elektronischen Musik den Schub zu geben, den sie auf ihren vorangegangenen Alben erhalten hat«, schrieb etwa Ryan Schreiber bei Pitchfork. Doch es ist eben dieses Innehalten, die Innenschau, das Introvertierte, das »Vespertine« zu einem herausragenden Album macht. Nur eben komplett anders als die Vorgänger.
In der kristallinen und funkelnden und stillen Schönheit dieses Albums lässt sich so viel mehr entdecken.
Im Interview mit Markus Kavka zum Release des Albums sagte Björk ja selbst: »Es ist ein Winteralbum. Es handelt davon, dass man sich im Winter drinnen aufhält.« Was nicht gerade das Statement für einen Schub der elektronischen Musik ist. Weil Björk sich aber davon verabschiedete, entfaltet sich »Vespertine« bereits in den ersten Takten von »Hidden Place«. Wenig später zieht sich die Essenz des Album in »Pagan Poetry« zusammen, dessen naive Melodie und Textzeilen sich in jede Seele einfrieren, die schon einmal durch die verschneite Nacht gelaufen ist.
Sie wolle das Abstrakte und das Narrative verbinden, sagte Björk in jenem Interview. Auf »Vespertine« schlägt das Pendel deutlich zum Erzählerischen aus. Es ist das Album der damals 35-jährigen, das sich fast sofort erschließt. Ein Sound, der nicht überfordert, sondern einnimmt. Was auch daran liegt, dass neben den Beats organische Instrumente wie die Harfe sehr präsent sind. Die Beats erstellte Björk zum großen Teil selbst, nahm als Grundlage dafür Dinge rund ums Haus wie brechendes Eis.
»Ich habe noch nie verstanden, warum die Technik ein Feind der Gefühle sein soll«, sagte Björk damals. »Die beiden haben nichts miteinander zu tun.« Die Menschen und Künstler:innen bringen die Emotionen ein. Nicht die Technik.
Kurz nach der Jahrtausendwende beschäftigte die Musikindustrie noch eine andere Sache: Napster. Illegale Downloads wurden laut der Labels zu einem immer größeren Problem. Metallica hatten 2000 die digitale Musiktauschbörse verklagt. Entsprechend verwirrt sah Markus Kavka aus, als Björk ihm erzählte, dass sie Napster und Downloaden sehr spannend finde. »Ich suchte die Singles danach aus, dass sie sich zum Downloaden eignen.« Wenn man in den Songs flüstere, höre sich das hübsch über Napster an.
Der Vergleich zum kurz vorher erschienen »Kid A« von Radiohead bot sich damals an, weil beide Platten eine Verweigerungshaltung einzunehmen schienen. Aus heutiger Sicht ist »Vespertine« jedoch keine Verweigerung, sondern einfach ein anderer Ausdruck einer Künstlerin, die hier den soundtechnischen Stillstand wähle, um eben genau nicht in Stillstand zu verfallen.
Die Kraft und Schönheit für dieses Album schöpfte Björk aus ihrer Beziehung und ihren eigenen Emotionen. Als ob sie in einer Winternacht noch einmal Luft holt, um in wenigen Stunden umso euphorischer den Tag in ihrer Kunst festzuhalten. Sie wolle den perfekten Popsong finden, habe Björk einmal gesagt. Auf »Vespertine« findet er sich nicht. Niemand muss danach suchen. In der kristallinen und funkelnden und stillen Schönheit dieses Albums lässt sich so viel mehr entdecken.
»Who would have known
A beauty this immense?
Who would have known
A saintly trance?«
(Björk – Cocoon)