Aigners Inventur – November & Dezember 2021

03.11.2021
Er wäre gerne der Typ, der immer die wildesten Puffer Jackets in den Supreme-Videos trägt. Ist aber nur unser Kolumnist. Ja, die sad’e Jahreszeit beginnt. Immerhin nicht mit schlechter Musik: Hier ist die neue Ausgabe von Aigners Inventur.
Wiki of Ratking
Half God
Wikset • 2021 • ab 36.99€
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Raps Ostküstenzentrismus feiert ja mindestens einmal pro Dekade ein veritables Comeback. »Half God« reiht sich mit seiner erwachsenenen und bleaken Introspektion nahtlos in die minimalistische Loop-Verliebtheit der Generation Earl ein, erweitert dessen entwaffnende Psychoanalyse aber durch eine New York Dekodierung, die man so eigentlich nur aus der Golden Era kennt. Wikis Ich-Erzähler verlässt aber im Gegensatz zu offensichtlichen Vorbildern (Nas, Mobb Deep et al.) die enge Perspektive der Project Windows und reflektiert New York als durchgentrifiziertes Oxymoron. Produziert hat das mit Navy Blue wahlweise Earls bester Freund oder der Typ, der immer die wildesten Puffer Jackets in den Supreme Videos trägt. Special, auch ohne 25 Jahre Boom Bap Silberhochzeit in der eigenen Vita.

Bronze Nazareth & Roc Marciano
Ekphrasis
Black Day In July • 2022 • ab 29.99€
Witzig auch wie Bronze Nazareth 15 Jahre nach seiner Tätigkeit als quasi Wu-Insolvenzverwalter jetzt wieder cool ist. Das liegt natürlich auch daran, dass mit Roc Marciano die wichtigste Größe im humorvoll humorlosen Zähnefletschen die Hälfte von »Ekphrasis« produziert hat, aber auch daran, dass sich auf dem Indielevel eine gewisse ATL-Ermüdung nicht leugnen lässt. Solider Kram, vielleicht sollte ich »The Great Migration« doch mal vom Dachboden bergen, wenn ich meine Eltern besuche.

BBNG (BadBadNotGood)
Talk Memory - The Memory Catalogue Bundle
XL • 2021 • ab 29.99€
Noch eine Spur mehr Biedermeier, aber auch ein eleganter Weg aus der sich anbahnenden Band-Identitätskrise: BadBadNotGood machen jetzt Jazz. Also richtig normalen Jazz: Sun Ra, Miles, Coltrane, ihr wisst schon. »Talk Memory« streift Hip Hop und Beatmaking nur noch ganz peripher und wirkt mit sich völlig im Reinen. Allein deswegen vielleicht das bisher beste BBNG-Album.

BBNG (BadBadNotGood)
Talk Memory - The Memory Catalogue Bundle
XL • 2021 • ab 29.99€
So kurz vor Jahresende prescht derweil Madteo mit dem sprödholzigsten House-Entwurf seit Theo Parrishs »Parallel Dimensions« in meine Jahrescharts. »Head Gone Wrong By Noise« ist ein ungeheuer stoischer Bock von einem Album, morastige Downtempo-Nummern treffen auf verkanteten 125 BPM House, der in keinster Weise zum Tanzen einlädt, aber mit Halftime-Halluzinationen trickst und Rhodes-Melodien und Voicemails in dieser Molasse verschwinden lässt. Dazu noch Raps von Sensational, aufgenommen im Atombunker und irgendwo auf Spur 64 in halber Lautstärke offbeat über eine Tribal Meditation gerotzt. Eine absolute Frechheit, dieses Album <3

Trip Shrubb
Trewwer, Leud Un Danz
Faitiche • 2021 • ab 19.99€
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Trip Shrubb gelingt derweil mit »Trewwer, Leud Un Danz« ebenfalls eine Sensation. Als Ausgangspunkt dieser Remixe diente der Folkways-Katalog, aber mit Folk haben diese 13 ausgewählten Stücke nur noch eine krude Sehnsucht gemein. Eigentlich ist das hier Dub Techno ohne Techno und Dub ohne Jamaika. Heraus kommt dabei dann eine Werkbund Platte für Chain Reaction. Dass man das noch erleben darf.

International Sangman
Death Roads & Spirit Ways
Ish • 2021 • ab 24.99€
Ebenfalls Dub in seiner dekonstruierten Version liefert International Sangman über das Züricher Experimental-Beats-Label Ish. »Death Roads & Spirit Ways« ist 40% Beattape, 40% Dub und 20% Pansonic auf -16. Cringe-Fazit: 100% Kaufempfehlung.

Froid Dub
Dubs & Beats From An Iceberg Cruising Jamaican Coastline
Delodio • 2021 • ab 19.99€
Etwas klassischer dann Froid Dub, deren »An Iceberg…« EP im Frühjahr sofort ausverkauft war. Anstatt schnöde nachzupressen gibt es jetzt die 1.5 Version dazu, die auf den Namen »Dubs & Beats From An Iceberg Cruising Jamaican Coastline« hört und bereits bekanntes nochmals durch die Version-Kammer jagt. Kontemporärer Dub ohne slacklinige 420-Appropriation, so muss das sein.

Shackletons erste Soloplatte seit längerem ist natürlich wieder unantastbar. Nicht, dass ich den proggigen Kollabo-Sam nicht zu schätzen wüsste, aber am abgründigsten und rhythmisch interessantesten arbeitet Shackleton für mich immer noch allein. »Departing Like Rivers« ist dann gemessen am eigenen Ouevre eine fast konservative Platte, will heißen: fluides Taktmassaker trifft auf die typischen Tribal-Signifier und bitterböse fauchende Walls und Walls of Sound, die in einem wohligen Subbassbrei aufgelöst werden. Einer der besten, immer noch.

Pendant
To All Sides They Will Stretch Out Their Hands
West Mineral Ltd. • 2021 • ab 29.99€
Pendant, ein weiteres Huerco S Alias, befeit sich auf »To All Sides They Will Stretch Out Their Hands« unterdessen fast gänzlich von der Rigidität des Taktes. Der Pressetext spricht selbstverständlich von Vaportrails und Chain Reaction und hat damit Recht. Wem das zu krude bleibt: Dub Techno ohne Drums bleibt schon so ziemlich der geilste Ambient.

V.A.
Molten Mirrors - A Decade Of Livity Sound
Livity Sound • 2021 • ab 59.99€
Kurzer Abstecher nach Bristol, wo Livity Sound seinen starken zweiten Frühling mit einer 4LP kürt. »Molten Mirrors« krönt gleichzeitig das zehnjährige Bestehen und die letzten zwei Jahre, in denen Peverelist sich durch eine stärkere Öffnung für globale Bass Sounds zu einem der eindrucksvollsten Kuratoren kontemporärer Club Musik gemacht hat, die über die Post-Dubstep-Anfänge des Labels zu Beginn weit hinausgehen. Hier nun Exklusivbeiträge von Simo Cell bis Azu Tiwaline, 18 Tracks, Drill Bass, Breakbeats, Dem Bow, Hands In The Air House und Trap Snares, manchmal alles gleichzeitig.

Blackwater
Navigation
Ethbo • 2021 • ab 20.99€
Auch alles gleichzeitig, aber anders: »Navigation« von Blackwater ist zu gleichen Teilen klassischer Trip Hop, Post Punk in seinem dubbigen Heyday und, ja doch, einfach britische Popmusik. RIYL die weniger curveballige Version von CS+Kreme, Carla Dal Forno B-Seiten oder dieses YL Hooi Album vor ein paar Monaten.

Jonnine
Blue Hills Yellow Vinyl Edition
Boomkat Editions / Documenting Sound • 2021 • ab 24.99€
Apropos CS+Kreme: Jonnines Lockdown-Vignette »Blue Hills«, bereits 2020 auf Tape erschienen, kam nach Vinyl-Miniauflage jetzt nochmal als zweite Pressung. Immer noch super wie die Australierin hier ihre Htrk-Trademarks in spleenigeren Miniatur-Pop verfremdet und ohne feste Songstrukturen mindestens genau so reüssiert.

Oi Les Ox
Crooner Qui Coule Sous Les Clous
The Death Of Rave • 2021 • ab 23.99€
Bereits in der letzten Inventur angeteast, jetzt draußen: Oi Les Ox und »Crooner Qui Coule Sous Les Clous«, eine wahnwitzige LP, die auch zwei Monate später noch klingt wie ein Best-Of dieser LSD-Compilations. Die in Brüssel lebende Aude Van Wyller dekliniert sich hier teilweise innerhalb weniger Minuten durch die wahnwitzigsten Avantgarde Subgenres, lässt Drumcomputer und Vocalschnippsel durch ihre wortwörtlich zeitlosen Fragmente rattern und schreibt hier einfach mal so ein Album, das klingt wie die absoluten Highlights einer über Jahrzehnte snobistischst kuratierten Plattensammlung. Noch eine für die Jahrescharts.

Mit »im hole« erscheint die definitive Post-Post-Club Platte nicht über Pan, sondern ganz unaufgeregt bei Hyperdub. aya schreddert hier SOPHIE, M.E.S.H., Loraine James und Wiley gleichzeitig, rappt und spuckt, löst hypersexuelle Entendres in metallener Abyss auf und kreiert nebenbei Tiktok Industrial. Gemein, irre und vor allem mal tatsächlich innovativ.

Phew
New Decade Colored Vinyl Edition
Mute • 2021 • ab 25.99€
Phews radikalste Ära dürften die frühen Achtiger gewesen sein, vor wenigen Wochen erschien als Beleg auch endlich ihr Debütalbum als Reissue. »New Decade« mag heute gemessen an der Konkurrenz nicht ganz so out there sein wie Phews frühe Arbeiten, aber nach vierzig Jahren im Dienst immer noch mit Flammenwerfer und einer Flasche Rotwein ins Büro zu steppen um der läppschen Belegschaft ständig die eigene Unantastbarkeit zu vergegenwärtigen, ist schon übel inspirational shit.

Tirzah
Colourgrade Transparent Sun Yellow Vinyl Edition
Domino • 2021 • ab 30.99€
Übel inspirational auch wie es Tirzah auf »Colourgrade« schafft, das doch (wie Schatzi Cornils hier schon anmerkte) für cooler als coolen Pop nicht so ganz einfache Sujet Motherhood so souverän zu erschließen, dass es den zum Großteil von Mica Levi produzierten, fast durchgängig sensationellen Instrumentals nie zu einer Bürde wird, sondern im Gegenteil diesen eine tiefere Ebene gibt. Selbst randome Geräusche mutieren hier zu in Reverb gebadeten Ultraschallwellen, jedes noch so banal anmutende Zwiegespräch wird zum Lippenbekenntnis. Anyway, noch so ein Jahrescharts-Ding.

Dean Blunt
Black Metal 2
Rough Trade • 2021 • ab 24.99€
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Oh und Dean Blunt hat auch einen Track auf dem Tirzah Album produziert. Für sein eigenes »Black Metal« Sequel legte er sich dafür deutlich strengere Regeln auf: »Black Metal 2« ist wie schon sein Vorgänger ein für Dean Blunts Verhältnisse extrem rigides Gitarrenballaden-Album, eine stringente Verneigung vor seinem Helden AR Kane, vorgetragen in dieser unkopierbaren sedierten Nonchalance, die gleichzeitig so abgründig und verletzt klingt.

Grouper
Shade
Kranky • 2021 • ab 27.99€
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Ebenfalls eine Bank bleibt Liz Harris, deren zwölftes Grouper Album wieder Lo-Fi-Folk, Shoegaze und Flüster-Pop im obersten Perzentil anbietet.

V.A.
Labyrinth Of Memories
Kashual Plastik • 2021 • ab 32.99€
Die neue Kashual Plastik Compilation liest sich anschließend wie eine posthume Low Company Notiz, angereichert mit den üblichen Verdächtigen aus der Göteborg-Szene. Brannten Schnüre, Thomas Bush, Monokultur, Loopsel, The Fulmars, Mosquitoes, Bobby Would, Maxine Funke, ihr wisst Bescheid. »Labyrinth Of Memories« beantwortet von Berlin aus die Fragen, die die plötzliche Blackest Ever Black Beerdigung »A Sudden Illness He Never Recovered From« hinterlassen hatte und ey ja, Gitarren sind einfach back.

The War On Drugs
I Don't Live Here Anymore Black Vinyl Edition
Warner • 2021 • ab 38.99€
Komm, ich gönne es mir doch öffentlich: The War On Drugs sind an diesem Punkt eigentlich eine Karikatur ihrer selbst, ein absurd überzeichnete Michael-Bay-Version der Band, die mit »Lost In A Dream« bereits die perfekte Americana-Schmonzette geschrieben hatte. »I Don’t Live Here Anymore« ist nun das schamlos zu Ende gebrachte finale Breitbrein-Klischee, lyrische Teilzeitsatire mit Wortklumpen aus den Wortfeldern Sabbatjahr und Selfcare, aber in seiner karrikaturesken Sentimentalität und in seinem hochprofessionell neoliberalen Arrangementporn in meiner Welt ein schon wieder so geil unprätentiöses Loslassen, dass ich halt doch wieder freudentrunken »Dream/Destiny/Lost/Feeling/Searching» mitgröhle. Adam, oh du meine Helene Fischer.