Review

Holly Herndon

Platform

RVNG Intl. • 2015

Anfang und Mitte der neunziger Jahre polte die behäbig einsetzende Digitalisierung unsere Weltwahrnehmung um. Eine neue, geheimnisvolle Ordnung kam und alles wirkte zwar komplexer, aber auch transparenter und schneller zu erreichen. IDM bra(u)chte den Glitch, um diese Entfremdung erfahrbar zu machen, Illusionen zu zerschmettern. Der Glitch zog sich wie ein Riss durch die neuen, digital schimmernden Oberflächen. Heute, da unsere Version des Webs ein paar Punkte vorangeschritten ist und die Digitalisierung alle Lebensbereiche durchdrungen hat, sehen die Dinge wieder anders aus. Das (scheinbare) Gesamtnarrativ wich der Polyphonie aus Einzelerzählungen in den sozialen Netzwerken. Was Mems wie Chillwave, Seapunk oder das auf der Metaebene angesiedelte Vaporwave lediglich kanalisieren können, das plustert Holly Herndon auf ihrem zweiten Album »Platform« auf, bis alle Filter Bubbles platzen. Nachdem die US-Amerikanerin mit ihren ersten Veröffentlichungen weniger durch Musik als vielmehr mit der ausgestellten Körperlichkeit ihrer Performances – Herndon begreift den Computer als Instrument und sich selbst als Musikerin statt als Produzentin – bekannt wurde, hat sie nun zu einem stimmigen Gesamtkonzept weiterentwickelt. Geteasert wurde das durch die Videos zu »Chorus« und »Home« die böswillige und gleichzeitig befangene Szenarien des durchdigitalisierten Lebens verdichteten. Ebenso hat sich Herndons Musik konzentriert: Das Fundament klingt nach IDM, allerdings (ent-)fremdelt ihre Musik nicht Dank Glitch, sondern Stimme. Die ist Herndons Hauptinstrument. Sie gespenstert mal in klar auszumachenden Melodiebögen über den polyphonen, mit pointilistischen Trance-Versatzstücken gespickten Wahnsinn ihrer Tracks, mal wird sie in Silben zerlegt und zum erratischen Rhythmuselement verformt. Das uncanny Highlight dieser digital-hauntologischen Platte besteht dann nur aus einem Sprachsample, unbearbeitet und nackt: Auf »Lonely At The Top« schmeichelt Performance-Künstlerin Claire Tolan mit säuseligen Liebesbekundungen ihrem Publikum und überdehnt die auf Positivismus und Individualisierung ausgerichteten Versprechen der sozialen Netzwerke. Was im IDM der Glitch war, das ist in Herndons Musik der Mensch. Ein konzeptuell und musikalisch ausgefeilteres, unheimlicheres Album wird es dieses Jahr vielleicht nicht zu hören geben.