Die Idee zu Mike Selesias »Flavor« soll während einiger Workshops im Jahr 1976 über einen Zeitraum von neun Monaten gewachsen sein, in denen er und ein obskurer Cast befreundeter Musiker konzertierte Jam-Sessions mit einem ausgewachsenen Arsenal unterschiedlichster Instrumente zelebrierten: Autoharp, Bass, Congas, Drums, E-Gitarre, Flöten, Kuhglocken, Orgel, Piano, Sitar und Streicher aller Art – es mangelte offenbar an nichts. Die Aufnahme selbst war dann angeblich nach einem einzigen Tag im Kasten und wurde ohne Rückendeckung eines Labels lediglich bei ein paar kleinen Festivals und lokalen Plattenläden unter die Leute gebracht. Klingt nach Legende, stimmt aber. Also wieder eine jener exhumierten Schönheiten der untergründigen Jazzhistorie? So ziemlich. Auf der einen Seite stehen die virtuosen Kapriolen von Mike Selesias Sopran und Tenor, der extracoole Bass von Bruce Preston, immer ganz dicht dran am Geschehen und die Perkussionisten Sam Salgado sowie Ruth Selesia, deren Spiel das Drumming des erst vor wenigen Jahren verstorbenen Al Santana furios akzentuieren. Ausschweifende Arrangements ohne Grenzzüge, mit der letzten Charge Acid gen Peak befördert. Das ist besonders eindrücklich zu hören in den Highlights »Eastern Raga« und den beiden »Castle Spook«-Parts. Auf der anderen Seite die konzise Rezitation von John Coltranes Prä-»A Love Supreme«-Phase und halluzinogener Post-»Quiet Nights«-Momente eines Miles Davis dessen Gespür für Atmosphäre damals schon nur als Inspiration so frisch klang wie irgendwas von heute. Derart unverblümt und tight spielen zeitgenössische Kneipen-Combos, mit all ihren technischen und finanziellen Möglichkeiten, kaum noch. Ungewöhnlich auch: Keiner der beteiligten Künstler – vom Zeichner des Covers John William Malott über Pianist Lloyd Earhart bis zum Gitarristen Joe Kurpell – hat viel mehr als dieses Album veröffentlicht, alle sind sie nur auf dem Höhepunkt der Fusion-Manie Mitte der Siebziger mit Mike Selesias in Erscheinung getreten und danach unbemerkt wieder in der Senke des beruflichen Alltags verschwunden. Mystisch, souverän surreal und ein Nischendasein fristend, ist der spezielle »Flavor« dieses Albums nach allen Regelbrüchen des Jazz immer noch unwiderstehlich.
Flavor