Review Jazz

Tõnu Naissoo Electric Trio

Different Directions

Frotee • 2022

Mal wieder Jahre im Voraus buchte der estnische Jazzpianist Tõnu Naissoo das Kellerstudio der altehrwürdigen Linnahall in Tallinn, um 2019 abermals einen Sound zu realisieren, dem er schon lange hinterher jagt: Vitaler Synthesizer-Jazz, durchlasert von Fusion-Shots und supersmoothen Grooves, die nicht erst seit gestern in der gesamten baltischen Jazz-Szene aber auch in Skandinavien tonangebend sind. Das Genre geht hier etwas andere Wege als im Westen Europas oder den USA, ist mehr an außerordentlichen Klangfarben und deren Verquickung denn an strukturellen Merkmalen interessiert, was seit Jahren auf vielen Alben und Labels – von Frotee und RR Gems über We Jazz bis Jazzaggression – zum Ausdruck kommt. Tõnu Naissoo ist aber einer der ersten Jazzmusiker Estlands gewesen, die sich mit elektronischen Kapriolen eine Flugbahn aus dem klassischen Combo-Setup suchten und dabei erfolgreich waren. »Different Directions« zeigt in etwas mehr als einer Dreiviertelstunde dementsprechend eindrücklich, welchen Unterschied so ein Rhodes Mark II Stage 73 oder ein Hohner Clavinet E7 Keyboard in den richtigen Händen tatsächlich machen können. Begleitet wird der seit 1967 aktive Bandleader von Ahto Abner an den Drums und Mihkel Mälgand am Bass, die den genüsslich ziselierten Tastentänzen eine dynamische und dennoch samtig weiche Grundierung schenken, beispielhaft etwa im wunderbar explorativen Opener »Blue Rider« oder dem geradezu erotischen »Lovely Moments (True Love)« mit seinen lowkey cineastischen Anflügen. Die sind auch eigentlich obligatorisch, hat Tõnu Naissoo doch schon während der achtziger Jahre um die 50 Soundtracks für Filme und Dokumentationen in den Linnahall-Studios aufgenommen und sich dabei eben jenes ausgefallenen Arsenals hochwertiger Synthesizer bedient, die sich in den geschichtsträchtigen Kellerräumen des massiven Baus über Dekaden ansammelten. Ausgestattet damit, gelingt ihm auf »Different Directions« beides: Der Dawncruise vom Damals ins Heute, aber auch der Blick in den Rückspiegel.