Die Welt dreht sich weiter und das mag normaler Weise etwas Beruhigendes an sich haben. Im Jahr 2020 wurde allerdings selbst denen schwindelig, die sich im vergangenen halben Jahrzehnt noch gut auf den Beinen halten konnten. Weiß hier noch irgendwer, was im Januar so vor sich ging, kann sich jemand an den Status quo dieser Welt im Februar erinnern? Nein? Wie denn auch! Die Welt dreht sich und das nicht etwa bei smoothen 33 1/3, sondern auf 78 rpm – Tendenz steigend.
Die ganze Welt? Nein! Denn die Musikwelt musste dichtmachen und den Betrieb anhalten. Clubs, Konzerte: abgesagt, und zwar auf lange Zeit. Was blieb übrig? Den vielen, vielen Toten zu gedenken. Von Andy Gill (Gang of Four), Manu Dibango, Bill Withers, David Roback (Mazzy Star), Mike Huckaby, Florian Schneider (Kraftwerk), Andrew Weatherall, Little Richard, Betty Wright, Juice WRLD, Bonnie Pointer und einigen mehr mussten wir uns in kürzester Zeit verabschieden. Doch verdünnten sich sogar die Medien, in denen die Trauerfeiern stattfanden: Weltweit brach mit der Veranstaltungsindustrie der Kulturjournalismus langsam in sich zusammen.
Zuletzt wurde das Magazin SPEX nach 40 Jahren und einem digitalen Neustart auf Eis gelegt und mit Zitty ein legendäres Berliner Stadtmagazin eingestampft. Auch sie: nicht die einzigen.Musik vor allem hat immer schon subtile Systemfragen gestellt, Veränderung gefordert und antizipiert oder schlicht Mut geliefert, wo Hoffnung Mangelware ist.
Gibt es da Perspektiven? Vielleicht. Ausgehend von der USA sorgte die Black-Lives-Matter-Bewegung weltweit für eine Neuverhandlung von strukturellem Rassismus und einer weitgreifenden Dekolonialisierung, wie sie im ökonomischen Nachgang der COVID-19-Pandemie noch dringender geboten sein als sowieso schon. Und obwohl es zynisch anmuten mag, das im selben Atemzug zu erwähnen: Der Soundtrack dazu war nicht der Schlechteste – und so unwichtig ist das nicht. Musik vor allem hat immer schon subtile Systemfragen gestellt, Veränderung gefordert und antizipiert oder schlicht Mut geliefert, wo Hoffnung Mangelware ist.
Auf den folgenden 50 Schallplatten ist mal alte und mal neue Musik zu hören, mal sind sie nach wenigen Minuten vorüber und mal entfalten sie sich über lange Zeit hinweg. Eines aber ist ihnen gemein: Bei 33 1/3 oder 45 rpm drehten sie sich parallel und doch als Kontrapunkt zu einer Welt, die für ein halbes Jahr in mehr Chaos versank als schon zuvor. Sie haben uns begleitet und geformt, manchmal sogar eine bessere Welt versprochen. Die schließlich haben wir dringend nötig. Kristoffer Cornils
Die Wüste wächst – in Afrika, in Mexiko, in uns. Gesellschaftlich und ökologisch geht es bergab, den neofeudalen Kapitalkahlschlägen haben wir weltweit nichts mehr entgegenzusetzen. Ak'Chamel schenken uns daher delirant-visionäre Musik, die den Untergang als Übergang begreift und schon mal von kommenden Zeiten träumt. Denn spätestens wenn unsere Ururenkel in den Ruinen verfallener Kühltürme Hieroglyphen an die Wände kratzen und Wildbret auf den zugewucherten Autobahnen auslegen, wird der Sound von »The Totemist« animalische Vollmondrituale begleiten.
Nils Schlechtriemen Zur ReviewWarum es seit Wiley eigentlich neben Mr. Mitch, Logos und einer handvoll anderer niemandem gelungen ist, Grime so dermaßen zu skelettieren, dass man sich traut mit dem Begriff weightless zu hantieren, ist schwer zu sagen. Stallgeruch und diverse andere stilistische Portfolio-Arbeiten im britischen Bass-Kontinuum scheinen jedenfalls unumgänglich zu sein. Grimescapes ist nun also auf einem der Labels der Stunde next in line alle tragenden Säulen britischer Feierkultur einzureißen und dabei über eine vollkommen neue pandemische Form von Tanzmusikresidue zu stolpern. Irgendwo fehlt hier jetzt noch eine The Last Of Us II Referenz, bitte nach Belieben einfügen. Florian Aigner
Dass alles gut ist, mag man nach diesem Halbjahr vielleicht nicht finden, aber das gilt zum einen nicht erst seit gestern und zum anderen mag sich das auf Friesisch noch mal anders darstellen. In dieser Sprache singt die Art Rock-Band It Dockumer Lokaeltsje, und für ihr Coveralbum von D.A.F.s »Alles ist gut« ist das höchst vorteilhaft. Auch dass es weder sägende Synthesizer noch Präzisionsgetrommel gibt, weiß man souverän zu lösen. Man nehme nur »Ik yn it echt« mit seinem kollabierenden Schlagzeug. Dank des Coverbilds zudem einer der bisher besten Beiträge zum ansonsten etwas ins Wasser gefallenen Beethovenjahr. Tim Caspar Boehme
Andrea, Cindy, Ulla – wir nennen uns jetzt wieder alle beim Vornamen. 2019 hieß Ulla noch Ulla Straus und mit »Tumbling Towards A Wall« hat die Musikerin aus Philadelphia zumindest mir das Du angeboten. Kratzte sie in der Vergangenheit mit ihren Sounds immer leicht an der Gebrauchsmusik, sind diese nun viel rhythmischer und strukturierter. So dass ich hier ohne schlechtes Gewissen sagen kann, wenn du Huerco S. magst, wirst du auch Ulla S. mögen. Sebastian Hinz
Die 50 Schallplatten der ersten Jahreshälfte findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/die-50-besten-schallplatten-der-ersten-jahreshaelfte-2020/i:D2N4S0SP15814.)