Aigners Inventur – Januar 2012

18.01.2012
Da hatte er schon auf einen verlängerten Weihnachsturlaub spekuliert und dann kamen ihm doch wieder massig Platten dazwischen. Auch diesen Monat setzt sich unser Kolumnist vom Dienst wieder kritisch mit der Release-Flut auseinander.
The Roots
Undun
Def Jam • 2011 • ab 13.99€
Wie ein Uhrwerk liefert ?uestloves Posse Jahr für Jahr ein neues Album ab, welches musikalisch nicht mit Kanye’scher Megalomanie konkurrieren will, aber dennoch wieder und wieder demonstriert, dass die Roots über den Status einer regulären HipHop-Kombo längst hinaus sind. Auch inhaltlich versucht Undun wieder unbequem zu sein, ohne in die Schizophrenie von Phrenology abzudriften oder so wütend zu sein wie The Tipping Point. Undun hat eher einer postmodernen Depression Platz gemacht, die sich in instrumentalen Collagen am Ende des Albums entlädt. Diese Koda ist willkommen, ans Ende des Albums platziert, fehlt ihr aber schlussendlich Konsequenz und Mut – v.a. wenn The Roots zuvor immer wieder in diesen selbstgerechten »Grown Ass Men«–Duktus abdriften, der sie langsam aber sicher für Babyboomer attraktiver macht als für die Tumblr-Gemeinde.

Common
The Dreamer, The Believer
Think Common • 2011 • ab 10.56€
Apropos Grown Ass Men: Während die Mannen aus Philadelphia einer sehr logischen musikalischen Evolution folgen, schlingert Lonnie Lynn aus Chicago weiter. Nach dem unsäglichen Universal Mind Control, hat Common mal wieder den Hip-Hop-Stalinismus für sich entdeckt und sein wertkonservativstes Album seit Be, wenn nicht gar seit Resurrection veröffentlicht. Dreamer/Believer besinnt sich auf alte Tugenden, No I.D. choppt Common ein seelentriefendes Instrumental nach dem anderen zurecht und der Rapper-turned-Actor gibt sich nicht nur kämpferisch, er klingt auch tatsächlich wieder hungrig. Dass er auf dem Albumhighlight (und nicht so ganz unterschwelligen Drake-Diss) Sweet die eigene Doppelmoral konsequent verleugnet, sorgt dann sogar noch für einen herzhaften Lacher. Aber weil Hip Hop gerne Storylines auf WWE-Niveau schreibt, macht das nichts, solange, wie hier, die Verpackung stimmt.

Sich neu zu erfinden hat Rick Ross nicht nötig, wer sich vom ersten Tag an als selbstzufriedener Ladiesman mit Cholesterin- und Coke-Habit geriert, muss nicht auf einmal beginnen Horkheimer zu zitieren. Was jedoch überrascht, ist, wie clever Rozay aus seinen begrenzten Möglichkeiten eine solch respektable Karriere aufgebaut hat. Nennt ihn Charles Oakley. Nun findet sich auf seinem aktuellen Mixtape Rich Forever erwartungsgemäß keine Hymne des Kalibers Hustlin oder Aston Martin Music, aber selbst dem größten Skeptiker seien die von der Justice League inszenierten Triple Beam Dreams ans – hoffentlich noch regelmäßiger schlagende – Herz gelegt, sei es nur wegen des absolut sensationellen Nas Vers.

Marsimoto
Grüner Samt
Four Music • 2011 • ab 20.99€
Gegen die Bild- und Raabifizierung der eigenen Karriere geht Coras Ohrknabberer Marteria nun nach dem massiven Erfolg seines Soloalbums mit der Reaktivierung seines Alter Egos Marsimoto vor. Grüner Samt ist ein sympathisches Album, weil Marteria hier nicht in Hits denkt, sondern seine teutonische Quasimoto-Adaption weiter so spleenig und nerdy gestaltet, wie das nach Bild-Titelseiten überhaupt möglich ist. Was jedoch fehlt, ist diese rohe Energie und Naivität, die das erste Marsimoto-Album zu einer solch unterhaltsamen Angelegenheit machte. Aber seine Unschuld verliert man nunmal nur einmal.

The Weeknd, Teil 3. Echoes Of Silence schließt die Mixtape-Trilogie des narzisstischen Post-R&B-Barden ab, riskiert mit einem Dirty Diana-Cover gleich zu Beginn sehr viel und veranlasst mich bei der qualitativen Einordnung dazu mich selbst zu zitieren: »Nicht, dass The Weeknds hipsterifische Umdeutung gängiger Schmonzetten-Klischees nicht Spaß machen und man ihm zu Bukkake-Parties mit Magermodels, bei denen hinterher viel geheult wird, gratulieren wollen würde, aber irgendwo hört man sich dann doch lieber einen aufrichtig angepissten The-Dream an als diese überzeichnete Karikatur. Was immer noch nicht heißen soll, dass Echoes Of Silence schlecht wäre«.

Juke hatte 2011 in der europäischen Wahrnehmung mit Machinedrums Rooms ein ähnliches Inititiatonsereignis wie im Jahr zuvor mit DJ Nates Da Track Genious. Nicht unter den Teppich kehren sollte man aber auch das völlig überdrehte Cashmere Sheets, ein kostenloses Bandcamp-Album von Patrice & Friends, das die Grundgrammatik von Juke nicht signifikant ändert, sie aber auf schmalztriefende R&B- und 80s-Boogie-Tracks überträgt. Das mögen bekannte Referenzpunkte sein, der Unterschied zwischen Cashmere Sheets und einem DJ Rashad-Track liegt jedoch darin, dass Patrice & Friends nicht in erster Linie an der radikalen Dekonstruktion des Ausgangsmaterials interessiert sind, sondern dieses viel mehr subtil editieren, so dass man am Ende fast schon glaubt, dass R&B schon immer auf 160 BPM lief.

Milyoo
Archeology
Opit • 2011 • ab 1.10€
Stilistisch schwerer einzuordnen ist Milyoos Albumdebüt. Das ist irgendwie schon alles in den typischen Bass-Kanon einzuordnen, gleichzeitig merkt man, dass der junge Amerikaner in Kentucky, Tennessee im Alltag vermutlich eher über Gucci Mane als Skream stolpert. Seinem Landsmann FaltyDL nicht unähnlich wechselt Milyoo spielerisch leicht Tempi, Rhythmusstrukturen und Klangfarben, verschiebt den Fokus auf Archelogy aber zu Beginn deutlich auf komplexe Hip Hop Strukturen, im Gegensatz zu FaltyDLs hektischen Breaks, um dann in einem semi-euphorischen House-Crescendo zu enden. Schöne Sache eigentlich.

V.A.
IOTDXI
R&S • 2011 • ab 29.99€
Was Milyoo ganz alleine schafft, verwirklicht die neue R&S-Garde im Kollektiv. IOTDXI ist eine aufwendige Labelschau, die all die jungen Talente versammelt, die dem legendären Label in den letzten Jahren eine Frischzellenkur verpasst haben. James Blake, Pariah, Space Dimesion Controller, Blawan, Untold, Lone, Klaus – die Zukunft ist immer noch heute und sie trägt natürlich vintage.

Dass Kollege Okraj und ich die Octo Octa Debüt-EP gebührend gefeiert haben, könnte bekannt sein. Wer so enthusiastisch mit 90er-Abfahrts-Zitaten spielt, Hochglanz-Klassiker samplet und dabei dennoch gänzlich uneitel wirkt, sollte auch ohne Erfahrung im Stande sein die Spannung auf Albumlänge zu halten. Betrachtet man, das nur als Tape erscheinende, Ruff, Rugged, Raw nun ganz streng als ausgewachsenes Artist-Album, so muss man jedoch den Kollegen von Fact zustimmen: so weit ist Octo Octa noch nicht. Rezipiert man diese Tracks jedoch als nette Dreingabe zu einer Tour, sind diese 11 Skizzen ein ermutigendes Zeichen für die Dingen, die noch folgen werden. Bei der Gelegenheit noch ein persönliches Anliegen: können endlich alle damit aufhören den Niedergang von 100% Silk mit Schmuddeletiketten wie Hipster House unnötig zu beschleunigen?

Viel mehr sollte man 100% Silk als genuines Tribute-Label an die Zeit sehen, die – glaubt man den immer noch sehr humanen Discogspreisen – immer noch nicht auf breiter Basis von Retrofetischisten kolonisiert wurde: die goldenen Neunziger, als Strictly Rhythm, Henry Street oder Relief gefühlte vier Platten pro Woche veröffentlichten. Ein Gegenbeispiel zu humanen Discogspreisen ist dann auch Boo Williams straight nach vorne jackendes, im Jahr 1996 über Relief veröffentlichtes Album Home Town Chicago, das vor kurzem über den neuen Ramp-Ableger Anotherday Records eine wohlverdiente und mittlerweile schon wieder vergriffene Neuauflage bekam. Geradlinige Tracks, die nicht von pseudoambitionierten Ambientinterludes aufgesogen werden, sondern ihre bedingungslose Flur-Bereitschaft meist schon in den ersten vier Takten vermitteln. Pflicht für alle, die sich auch mal länger als vier Minuten zu gerade eingepeitschten 130 BPM bewegen können.

Drexciya
Journey Of The Deep Sea Dweller I
Clone Classic Cuts • 2011 • ab 14.99€
Mit einem wesentlich ausformulierteren intellektuellen Überbau agierten zehn Jahre lang James Stinson und Gerald Donald. Als Drexciya revolutionierten die beiden das, was originär unter dem Begriff Electro zu verstehen war und wohl auch aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit vieler Releases werden die beiden stets als Hauptinspirationsquelle der aktuellen Techno/House-Elite genannt. Nachdem Tresor den Drexciya-Hunger bereits mit Represses der beiden Klassiker Harnessed The Storm und Neptune’s Lair gestillt hat, macht sich nun Clone daran, die wichtigsten Single- und EP-Veröffentlichungen zu kompilieren. Journey Of The Deep Sea Dweller ist nur der erste Teil, aber bereits so essentiell wie kaum ein anderes Release der letzten Monate, zumindest für all diejenigen, die mit der Strafe der späten Geburt leben mussten oder zu knickrig waren anständig Geld in die Hand zu nehmen.

D'Marc Cantu
Fallen
Creme • 2011 • ab 17.99€
Und weil in Chicago und Detroit schon so früh das Optimum aus dem Roland-Fuhrpark gekitzelt wurde ist D’Marc Cantus Album im Jahre 2011 auch keine Sensation, sondern vor allem eine gelungene Fingerübung. Liebevoll dekliniert sich dieser auf Fallen durch das Beste, was die House- und Techno-Hochburgen in deren Sturm-und-Drang-Phasen hervorgebracht haben, dabei aber stets sehr sinister bleibend und gerne rhythmisch um die Ecke gedacht. Kein Muss, aber als Ergänzung sehr gelungen.

Höchst galant verwaltet auch Conforce den Nachlass Detroits. Auf Escapism öffnet es sich mehr als zuvor auch House, die Claps fordern mehr, die Synth-Elegien lösen sich häufiger in Ekstase auf. Ein weiteres kaufenswertes Album.

Ali Renault
Ali Renault
Cyber Dance • 2011 • ab 22.99€
Nachdem Ali Renaults Bekenntnis zu den käsigsten Momenten von Italo Disco und Spandex Rock unter dem Namen Heartbreak überraschend deutlich floppte, besinnt er sich solo auf etwas weniger Pomp. Das selbstbetitelte Album kann sich die ein oder andere große Pop-Hook auch nicht verkneifen, konzentriert sich aber generell eher auf den typischen The Hague Sound mit pornösen Arpeggi, Casio-Synthies und niedriger Schmerzgrenze. An sich in Ordnung, aber von der Clone-Posse auch schon x-mal besser vorgemacht.

Er hatte es bereits auf seinem LWE-Podcast angedeutet, nun ist es auf Albumlänge nachzuhören: Tin Man lässt 303 und 707 im Schrank und konzentriert sich auf Vienna Blue vollständig auf avantgardistische, oft Kickdrum-lose Soundtrack-Stücke und suizidale Balladen in der Tradition von Nick Cave. Eigenwillig, aber mit etwas mehr Wumms, Rumms und Squelch gefällt er mir doch deutlich besser als mit Kammerspiel-Intermezzi.

The Big Pink
Future This
4AD • 2012 • ab 19.99€
Weiter mit Gitarren. Dass The Big Pinks zweites Album Future This auf Beats und Samples fust, hört man nämlich nur bedingt, vor allem weil sie sich immer noch nicht zu schade sind für die ganz großen Melodiebögen. Das führt auch dazu, dass der typische Shoegaze-Snobbismus hier eher affektiert wirkt. Im Grunde wollen die nämlich ins Stadion.

Feist
Metals
Interscope • 2011 • ab 32.39€
Ach ja, es gibt auch ein neues Feist Album, das ihr vermutlich alle schon in einer WG-Küche oder Kaffee-Filiale eures Vertrauens gehört habt. Metals heißt es.

The Black Keys
El Camino
Nonesuch • 2011 • ab 30.99€
Selbiges könnte auch El Camino zutreffen. Wenn ich meinem Facebook-News-Stream vertrauen kann, scheinen die Black Keys in Deutschland mittlerweile größer zu sein als Andrea Berg. Ich finde ja, dass sich auf dem dritten in Kooperation mit Danger Mouse produzierten Album mehr als nur leichte Abnutzungserscheinungen bemerkbar machen, aber das will man den Fans auch nicht unter die Nase reiben.

Mustafa Özkent
Genclik Ile Elele
Finders Keepers • 2006 • ab 12.99€
Kommen wir abschließend noch zu einem dieser obskuren Finders Keepers-Schätzchen. Und weil der Promotext zu Genclik Ile Elele so zutreffend ist, verabschiede ich mich an dieser Stelle einfach in bester Guttenberg-Manier: „Originally released in 1973, this instrumental album by the Turkish madman Mustafa Özkent manages to sound like both an album of that era and ahead of its time at the same time. It´s funky as hell, with some clattering breakbeats, scorching melodic organ riffs, and a sense of humor that won´t quit. It´s sorta like someone crossed the Incredible Bongo Band with some sort of free-spirited middle-eastern rock band.“