Aigners Inventur – Februar 2011

16.03.2011
Foto:The Binh HHV Handels GmbH
Raekwon kümmert sich um die Basis, Mr Dibiase um die Atari-Nerds, Show & KRS-One um die ewig Gestrigen, Virgo 4 um Chicago, PJ Harvey um England und Radiohead um die Journaille. Madames et Monsieurs: der Februar!
Raekwon
Shaolin Vs. Wu-Tang
Ice Water • 2011 • ab 7.19€
Album anderthalb nach der triumphalen Rückkehr in Form von Cuban Linx Part 2 also. Während das Wu-Massacre-Intermezzo mit den Spezln Meth und Ghost in seiner hektischen Kürze eher Snack-Charakter hatte, meldet sich Raekwon auf Shaolin vs. Wu-Tang in epischer Breite zurück. Klassizistisch as fuck, wieder mit Post-Dipset-Hipster Jim Jones, allerlei Wu-Inventar, Rick »ich kann auch mit Streichern und Soul-Samples« Ross und seinem neuen Go-To-Guy Black Thought, rappt sich der Chef durch zeitloses NY-Brimborium, inklusive Shadowboxing-Sample-Bastardisierung. 1997 hätte ich mich vermutlich beklagt, dass der Clan das schon besser gemacht hat, 2011 applaudiere ich. The times they are a-changing – are they?

Lupe Fiasco
Lasers
Atlantic • 2011 • ab 26.34€
So, weiter mit einem der talentiertesten des neuen Milleniums. Anstatt aber seine immer noch einigermaßen exponierte Stellung zu nutzen und die Ringtone-Fraktion weiter mit Reimen zu verwirren, auf die Literaturwissenschaftsmagister stolz wären, entscheidet sich Lupe Fiasco für den vermeintlich einfachen Weg. Übersetzt heißt das: angestaubte Autotune-Geschichten, Choruses straight outta Keshaville und Beats die Pharrell nach einem Hördurchgang gelöscht hätte. Einigen interessanten Ideen und einem arschvoll Talent zum Trotz: Lasers ist eine mittelschwere Katastrophe.

Talib Kweli
Gutter Rainbows
Duck Down • 2011 • ab 8.49€
Weniger verheerend fällt das Urteil für Gutter Rainbows aus. Erschienen über die Resterampe Duck Down, veröffentlicht Talib Kweli ein solides, manchmal beliebig, manchmal richtig hungrig klingendes Album. An die überraschend starke Reflection Eternal-Reunion aus dem letzten Jahr oder Liberation: reicht es jedoch nicht heran, dafür ist das alles zu zerfahren, zu mixtapy, zu groß die Diskrepanz zwischen dem routinierten Flexen mit Sean P auf Palookas__ und dem Post-Neo-Soul-Vibe der zweiten Albumhälfte.

Reks
Rhythmatic Enternal King Supreme
Brick • 2011 • ab 15.99€
Zur Review
Noch wesentlich expliziter an allen Trends vorbei rappt Reks auf R.E.K.S. (Rhythmatic Eternal King Supreme). Premier, Alchemist, Showbiz, Sean C & LV, Hi-Tek, Nottz, Styles P, clevere Lyrics, ein sauberer Flow – auf dem Papier ein Traum für die Brooklynosaurier. Und dennoch: irgendwie verdeutlicht dieses Album, dass die Lösung für Hip-Hops andauernde Sinnkrise auch nicht zwangsweise in den staubigen MPCs der Grande Seigneurs liegt.

Show & KRS One
Godsville
DITC • 2011 • ab 13.59€
Apropos Sinnkrise: Wer diese in Potenz hören will, greift zu Godsville. Hier kollaborieren KRS-One und Showbiz auf Albumlänge und so sehr man das bedauern mag: das braucht heute keiner mehr. KRS stammelt sich von Plattitüde zu Plattitüde (»Hip Hop you don’t stop, now true dat./ We cut with the Boom Bip, scratch with the Boom Bap«) über größtenteils okaye, aber oft ebenso hüftsteife Show-Instrumentals. Eine Platte wie ihr Cover.

Mr.Dibiase
Machines Hate Me
Alpha Pup • 2010 • ab 22.99€
Wer sich nach so vielen Phrasen die Ohren ausspülen muss, kann dies mit den bleepigen, ad infinitum gechoppten Beatskizzen Mr Dibiases tun. Der deutet auf Machines Hate Me an, warum der Titel durchaus Programm sein könnte. Hyperaktiv triggert sich Dibiase durch seine – Vorsicht, 2008er Vokabel – wonky Beats und lässt keine vier Takte gerade sein. Anstrengend, aber gut.

Long Arm
The Branches
Project: Mooncircle • 2010 • ab 12.99€
Etwas melodieverliebter, wesentlich analoger, mit ähnlich schwach ausgeprägtem Sitzfleisch: The Branches, ein atmosphärisch sehr dichter und in seinen Arrangements an Dday One erinnernder Longplayer von Long Arm. Gerade wenn die extrem live klingenden Drums und jazzig-melancholischen Arrangements mit Vocal-Schnipseln pointiert werden, passt das herrlich in die Jahreszeit.

Gil Scott-Heron & Jamie XX
We're New Here
XL • 2011 • ab 17.99€
Schwer gehypt, für mich hinter den Erwartungen zurück geblieben: We’re New Here, die Remix-Maßarbeit des Doppel-X’lers Jamie xx. Gil Scott-Heron und Halftime-Wobble – das passt nicht. Nicht alles ist so problematisch wie die Neubearbeitung des jetzt schon relativ nahe am Klassiker dran seienden NY Is Killing Me – gerade I’ll Take Care Of You in der Piano-House- Variante oder die Brainfeederisierung von My Cloud haben eine Menge Charme – aber insgesamt wurde hier eine große Gelegenheit vergeben.

Mit ähnlicher Chuzpe produziert weiterhin Moritz Friedrich. Der hat sein Siriusmo-Alter Ego jetzt endlich mal auf Albumlänge in den Ring geschickt. Programmatisch auf den Namen Mosaik hörend, demonstriert Friedrich hier mal wieder, warum er das einzig legitime Berliner Pendant zu Mr Oizo ist. Sperrige Noise-Schlieren durchziehen den hyperaktiven Digital-Funk, Arpeggios stoppen so unvermittelt wie sie begonnen haben, wenn gebollert wird, dann immer mit einem diebischen Grinsen. Der Wahnsinn hat Methode.

Round Table Knights
Say What?!
Made To Play • 2011 • ab 9.57€
Zur Review
Während Siriusmo den Menschen, die seine Musik früh online promotet haben, nie so richtig getraut zu haben scheint, fühlten sich die beiden Schweizer Round Table Knights in der Discobelle-Posse augenscheinlich recht wohl. Wie viele frühe Bloghouser versucht sich das Duo mit ihrem Albumdebüt auf Jesse Roses Made To Play von allzu plakativen Etiketten zu befreien und ein ernstzunehmendes House-Album zu produzieren. Say What? will dann aber zuviel. Von Midget-Kleinklein über die Ethnokeule und Peaktime-Wums zu Downbeat und Sample-affinem Deep House – das mag gut gemeint sein, abgesehen von der fehlenden Kohärenz, stecken die Schweizer zusätzlich noch in dem Dilemma in keinem der durchexerzierten Micro-Genres zu den Klassenbesten zu gehören.

Salva
Complex Housing
Tall Corn • 2011 • ab 21.99€
All-Over-The-Placeness ist auch bei Salva Trumpf. Complex Housing bedient sich in Sachen Micro-Genres eher in der britischen Bass-Kiste, schmeißt aber auch einige dicke Boogie-Basslines und feisten Model 500-Electro in den Ring. Alles sehr digital, sehr Rustie meets Joker, aber wesentlich charmanter als das so manch anderer Epigone zuvor versucht hat.

Wolfram
Wolfram
Permanent Vacation • 2011 • ab 13.56€
Ganz andere Ziele verfolgt der Wiener Wolfram, der sein Diskokaine Alias, so man der Legende glauben will, abgelegt hat, weil ihn eine nette alte Dame in einem öffentlichen Verkehrsmittel daran erinnert hat, dass Wolfram doch ein viel schönerer Name wäre. Gotta love the Ösis! Jener Wolfram lädt sich für sein Albumdebüt Wolfram nicht nur den Neo-Disco-Exzellenzcluster Hercules & Love Affair, Holy Ghost und House Of House ein; nein, auch Hollands Chef-Jacker Legowelt und Landsmann und Pionier Patrick Pulsinger dürfen ran. Und Dr. Alexander Nestor Haddaway. Doch, DER Haddaway! Diese Wahl darf durchaus als paradigmatisch gelten, so versucht Wolfram doch auf dem Album die Brücke zwischen fiesen Euro-Dance-Reminiszenzen und erhabenerer Disco-Musik zu schlagen. Was ihm zum Teil erstaunlich gut gelingt. Geht sich aus!

Soft Rocks
Disco Powerplay
Disco Power Play • 2011 • ab 6.97€
Den Editierern von Soft Rocks wäre das natürlich viel zu platt. Die versammeln auf Disco Powerplay krude Krautrock-Jams, C-Movie-Schwülstigkeiten, ekstatischen Afro-Funk, fiesen Dad-Rock, käsige Boogie Jams und alles andere, was man als Kosmiker halt so spielen kann. Sympathisch und viel besser als diese Beschreibung erahnen lässt.

Nicholas
Depths Of My Soul
No More Hits • • ab 12.99€
Direkt eine noch relativ unbesetzte Nische im Edit-Business reklamiert hat der 25-jährige Italiener Nicholas, der auf Depths Of My Soul seine zahlreichen Vinyl-Beiträge kompiliert. Nicholas‘ Instrumentals verbinden funky Disco-Breaks mit nachdrücklich jackendem Roland-Wahnsinn Chicago’scher Prägung. Das alleine reicht – immer und immer wieder – schon für Aigner’sche Begeisterungsstürme, was Nicholas aber so gut wie wenige andere kann: Vocals. Die klaut und samplet er sich von expressiven Disco- und House-Diven zusammen und klatscht sie über seine, gerne im Midtempo trudelnden Tracks. Und es passt – auch immer und immer wieder.

Virgo Four
Resurrection
Rush Hour • 2011 • ab 49.99€
Kommen wir zu einem Release, das – ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster – den Platz in meiner Jahrestop 3 jetzt schon fest gebucht hat. Eric Lewis und Merwyn Sanders waren und sind dank Rush Hour jetzt wieder Virgo 4. Resurrection versammelt Material das in den Jahren 1984 bis 1990 entstanden ist und zementiert das, was spätestens seit dem letzten Jahr alle wissen: Virgo 4 sind die historisch unterbewertetste House-Combo aller Zeiten. Da können manche Kollegen noch so oft schreiben, dass nicht alles auf dieser monströsen 5er-LP essentiell sei und manche Tracks eher Skizzen gleichen würden. Banausen, ihr! Für mich sind diese subtilen und tiefen Tracks nicht nur eine Reise in das sagenumwobene Chicago der Achtziger, sondern so ziemlich das Beste, was 2011 hätte passieren können. Da kann sich der Rest der heutigen House Nation noch so oft durch die Roland-Palette durchdeklinieren: this is how it’s supposed to be done!

AstroPoser
Meet My Brother
Djak Up Bitch • 2011 • ab 6.26€
Und gleich nochmal eine Legende: Rick Wilhite, seines Zeichens Detroiter Instanz in Sachen Vinylverkauf und mit den ganz Großen musizieren, entschließt sich nach mehr als zweieinhalb Dekaden dann doch mal dazu ein Soloalbum zu veröffentlichen. Wobei – so ganz alleine ist er auf Analog Aquarium (natürlich) nicht. Seelenverwandte wie Theo Parrish, Osunlade, Billy Love oder Marcellus Pittman greifen dem Godson tatkräftig unter die Arme und sind nicht gerade unbeteiligt daran, dass man sich im Handumdrehen in diesen tiefen, großflächig arrangierten Soul-Stompern verliert, bevor Wilhite gen Ende kosmische Dschungelsuppe auftischt und die Parameter in Richtung Techno verschiebt. Groß, groß, groß!

Moritz Von Oswald Trio
Horizontal Structures
Honest Jon's • 2011 • ab 4.99€
Moritz Von Oswald bastelt derweil unbeirrt an seinem ganz eigenen Klanguniversum. Für Horizontal Structures lud er sich erneut Vladislav Delay und Max Lodermann zur gemeinsamen Grenzauslotung ein und herausgekommen ist, wie schon auf dem Vorgänger, ein unklassifizierbarer Monolith, der auf dubbigem Gewummer, improvisierten, schwer greifbaren Klangkörpern, Headfuck-Electronica und krautigen Ambient-Drones fußt. Erschienen ist das nächste Kapitel des Moritz Von Oswald Trios übrigens wieder via Honest Jon’s.

Argh, Radiohead. Most undankbarer Review-Job in ze world. Wobei, dieses Mal ist es einfacher. Selbst die größten Apologeten scheinen sich einig zu sein, dass King Of Limbs (ausnahmsweise) mal keine neue Zeitrechnung in der Musikgeschichte initiiert. Ich mag vor allem die gar nicht so zaghaften Annäherungen an Yorkes Brainfeeder-Fantum, die rockigeren Sachen hatten wir alle schon und die obligatorische Ballade ist schön, aber halt auch ein bißchen narzisstisch. Klingt das jetzt alles so, als würde ich Radiohead nicht mögen? Blödsinn! Bleibt halt doch der undankbarste Review-Job in ze world…

PJ Harvey
Let England Shake
Vagrant • 2011 • ab 26.99€
Auch mögen tut jeder (inklusive mir) PJ Harvey. Weil ich eine Schwäche für desillusionierten Post-Viktorianismus habe, sind die gewohnt weirden, sich dieses Mal in gewohnt kryptischer Weise mit den Wirren des ersten Weltkriegs beschäftigenden Texte auf Let England Shake wieder ein Spaß für uns Akademiker-Dünnbrettbohrer. Und die Stimme ist und bleibt halt toll. Right on, Polly Jean, right on!

Charles Bradley
No Time for Dreaming
Dunham • 2010 • ab 12.79€
So, genug Folk-Genöle jetzt, steige aus dem Bett, dreh den Soul auf. Auf die vermutlich dämlichsten Worte, die je eine Charles-Bradley-Review einleiten werden, folgt noch die bahnbrechende Erkenntnis, dass Bradley nicht nur die Stimme eines Stax-Gottes hat, sondern mit der Menahan Street Band auch Mitstreiter, die dieses Retro-Soul-Ding so im Sack haben wie sonst vielleicht nur die El Michels Affair und die Daptones. Überdeepe Gänsehautinstrumentierung und eine sensationelle gesangliche Leistung – muss ich weiterreden? Ach doch, Albumtitel fehlt ja noch: No Time For Dreaming.

The Natural Yogurt Band
Tuck In With ...
Now-Again • 2011 • ab 12.79€
Nicht nur, dass die Natural Yogurt Band so ungefähr den besten Namen aller Zeiten trägt, auch fällt mir ad hoc keiner ein, der den klaustrophobischen Psych-Soundtracks eines David Axelrod oder Alain Goraguer so effizient mit dynamischen Funkbreaks und WahWah-Wahnsinn zusammenbringt, wie das nun wohl fest auf Now Again beheimatete Kollektiv. Das neue Album heißt Tuck In With… und ist genauso super wie der Vorgänger.

Austin Peralta
Endless Planets
Brainfeeder • 2011 • ab 16.99€
Zum Schluss noch waschechten Jazz. Auf Brainfeeder. Das ist gar nicht so verwunderlich, wenn man um Fly Los-Familienbande und musikalischen Vorlieben weiß. Statt futuristischen Beatkollagen gibt es uns Austin Peralta ganz klassisch. Mir gefallen die reduzierten, schwerelosen Stücke besser als die wilden Bebop-Jazzer, weil ich dazu irgendwie ständig Bilder von Travis Bickle im Kopf habe, aber mit Jazz ist das ja wie mit Rotwein: sollte man sich als Halbwissender nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.