Aigners Inventur – April 2012

25.04.2012
Auch diesen Monat setzt sich unser Kolumnist vom Dienst wieder kritisch mit der Release-Flut auseinander, selektiert, lobt und tadelt. Any given month. Dieses Mal u.a. unter der Lupe: Actress, OFWGKTA, Aphroe und Dream 2 Science.
Odd Future (OFWGKTA)
OF Tape 2
Odd Future • 2012 • ab 18.99€
Zur Review
Beginnen wir mit einem neuen OFWGKTA-Mixtape. The OF Tape Vol. 2 versammelt von den beiden Posterboys Tyler und Frank Ocean, über die zweite Garde um den heimlichen Star Hodgy Beats und Mellowhype, bis hin zu den relativ talentfreien Bankspielern Jasper und Taco die gesamte Rasselbande. Und das Wichtigste: ja, auch Earl Sweatshirt kommt zu Wort, wenn auch nur mit einem Vers auf dem überdimensionierten Posse-Cut Oldie. Dass das nicht durchgehend fesselt, liegt zum Teil an dieser Odd Future-typischen Unfokussiertheit, die man noch vor 18 Monaten sehr charmant fand, zum anderen aber auch daran, dass die Jackassisierung des Rap-Spiels 2012 etwas schal geworden ist. Unterhaltsam ist dies trotzdem noch, vor allem dank Hodgy Beats, aber heute klickt der gemeine Swag-Rap-Fan einfach hysterischer bei den Black Hippies und dem A$AP-Mob.

DJ Premier & Bumpy Knuckles (Freddie Foxxx)
The KoleXXXion
Gracie Productions • 2012 • ab 15.99€
Mit Halbwertszeiten, Datpiff-Hype und YouTube-Klicks wenig am Hut haben hingegen DJ Premier und der notorisch schlecht gelaunte Bumpy Knuckles, der früher mal auf den Namen Freddie Foxxx hörte und immer noch der Typ in New York ist, den man nicht ohne weiteres um eine Newport anschnorren sollte. Premo ließ es sich nicht nehmen The Kolexxxion vollständig selbst zu produzieren und Bumpys Seen-It-All-Habitus mit den üblichen Rasiermesser-Cuts, sorgfältigst gechoppten Mini-Loops und der Premier-Trademark-Snare zu unterstreichen. Für die Jahrgänge 76-86 ist da schwer was gegen einzuwenden, auch wenn man selbst als größter Premier-Apologet schon zugeben muss, dass einem gerade die leichten Formelabweichungen heute die größte Freude bereiten.

Planet Asia
Black Belt Theatre
Green Streets • 2012 • ab 14.99€
Auch Planet Asia ist eher Bausparer als Avantgardist, aber wer mit einer solchen Stimme gesegnet ist, muss sich gar nicht unbedingt alle vier Monate neu erfinden. Black Belt Theatre ist ein bodenständiges Album, das auch 1999 oder 2006 hätte erscheinen können, ohne dass die Erde gezittert hätte. Das kann man als Qualitätsmerkmal verklären oder mit Gähnen quittieren, so oder so bleibt Planet Asia einer der elegantesten Stilisten aus der Napster-Ära.

Aphroe
90
Melting Pot Music • 2012 • ab 15.99€
So, jetzt wird es unangenehm. Eins vorweg: Aphroe hat seinen Platz in der Deutschrap-Historie sicher, es dürfte kaum einen Wollmützenträger geben, der 1998 nicht Akne mit Tekken, Pils und Unter Tage versucht hat zu bekämpfen und in Aphroes semiphilosophischer Ruhrpott-Poesie den künftigen Studenten in sich entdeckte. Das Problem ist: time waits for no man und Aphroe ist mittlerweile ein Fremdkörper. Nicht dass es grundsätzliche verkehrt wäre, Überklassiker aus den goldenen Neunziger einzudeutschen, aber wer eine Dekade pausiert hat und sich dann an The World Is Yours, Time’s Up oder Shook Ones Pt.2 versucht, klingt unvermeidlich hölzern. 90 ist dann auch ein Album für Menschen, die sich nur schwer entscheiden können, ob Haftbefehl oder Lukaschenko aktuell das größere Übel ist, die immer noch fünf sealed Copies von 1,2 Pass It im Regal stehen haben und den DSL-Anschluss eigentlich nur brauchen um die Preisentwicklung ihrer Fondle ‚Em-Sammlung auf Discogs zu verfolgen. Auf dem richtigen Album dann bitte Beats von Fid Mella und weniger demonstrative Entfremdung und das wird wieder. Höre ich mir derweil Westwinde an oder doch Du kannst nicht immer 17 sein?

Robert Glasper Experiment
Black Radio Volume 1
Blue Note • 2012 • ab 17.99€
Ähnlich angestaubt ist auch Robert Glasper Experiments Black Radio. Jazz ist der Lehrer und Soul der Vater, so viel ist klar, aber was hier passiert, wurde schon vor zehn Jahren im Okayplayer-Camp besser in Serie produziert und klingt heute so harmlos, dass man unweigerlich an Starbucks und Bubble Tea denken muss. Da hilft es auch wenig, dass Glasper zum Großteil mit der damaligen Neo-Soul-Elite zusammenarbeitet, zitieren sich Ms. Badu, Musiq und Bilal hier doch nur selbst. Herz am richtigen Fleck, Eier not so much.

Conrad Schnitzler
00/830 Endtime
M=Minimal • 2012 • ab 23.16€
Stillstand war Conrad Schnitzlers Sache hingegen nicht. Zeitlebens ein Besessener, egal ob bei Tangerine Dream, Kluster, Eruption oder als Solokünstler. Kurz vor seinem Ableben im vergangenen August produzierte Schnitzler noch 00/830 ENDTIME, eine 36 Tracks umfassende Collage wilder, experimenteller Electronica- und Noise-Schnipsel, die Schnitzler in ein 70-minütiges, weitgehend beatloses Opus einwebte. Und wir wissen wieder warum Oneohtrix Point Never heute nicht der wäre, der er ist, ohne Schnitzler und Raymond Scott.

Clark
Iradelphic
Warp • 2012 • ab 18.99€
Egal, welche Fangopackung sich Clark für Iradelphic genehmigt hat, die Entschleunigung tut ihm gut. Statt hektischen Breakcore-Gewittern, 40 Rhyhtmuswechseln pro Minute und Subbass-Manie gibt es hier filigrane Ambientskizzen, die Art von Laptop-Folk, auf die Four Tet nach Rounds keine Lust mehr hatte und IDM der verträglicheren Art. Nicht schlecht, vor allem sonntags.

Actress
R.I.P.
Honest Jon's • 2012 • ab 7.38€
Oh mein Gott, ein neues Actress Album. Als erklärter Darren Cunningham-Stan bin ich nervös. Unbegründet natürlich, denn was Actress auf R.I.P programmiert, ist so konkurrenzlos, so clever zitierend und doch so vollkommen einzigartig, dass jede Art der Pre-Listening-Nervosität Makulatur ist. R.I.P ist eine visionäre Dystopie, monochrom und griesgrämig, ambitioniert und zickig und erst gen Ende bereit mit dem knochentrockenen 909 Banger The Lord’s Graffiti die angestaute Energie kurz zu entladen. Das klingt machmal so, als hätten sich Andy Stott und Marcellus Pittman zwei Monate eingeschlossen und musikalisch mit der Frage auseinandergesetzt, was passiert wäre, wenn Derrick May und Aphex Twin Mitglieder von Boards Of Canada gewesen wären. Oder halt nach Actress.

Ebenfalls brillant, wenngleich mit vier Tracks ganz schön geizig für ein Album: Mi Ami und ihr 100% Silk Debüt Decade. Bevor ich mich jetzt hier mit unproduktiver Paraphrasierei zu bereits dutzendfach gesammelten Erkenntnissen bezüglich Ital, 100% Silk, Artrocker-Gone-House, Vintage Drum Machines und Trax selbst langweile, an dieser Stelle nur ein „Bitte Kaufen“.

Selbiges gilt für das zweite Album von Innergaze, dem No Wave-, EBM- und Proto House-beeinflussten Projekt des liebhabenswürdigsten Pärchens in DIY-House, Jason Letkiewicz und Aurora Halal. Auf Mutual Dreaming rattern Roland und Linn, es Moroder-ert die Synth und ich bekomme ein bißchen Pippi in die Augen bei der Vorstellung, dass die beiden, nachdem sie diese grandiosen Reminiszenzen programmiert haben, lecker Thai Food ordern, einen Argento Hitmovie einschmeißen und zu Gherkin Jerks B-Seiten kopulieren.

Hype Williams
Black Is Beautiful
Hyperdub • 2012 • ab 4.99€
Zur Review
Über den aktuellen Beziehungsstatus von Dean Blunt und Inga Copeland ist mir nichts näheres bekannt, fest steht jedoch, dass die beiden für Hyperdub nun ein Album unter ihrem bürgerlichen (?) Namen aufgenommen haben. Ob der Hype Williams-Moniker hiermit beerdigt ist, weiß ich ebenfalls nicht, es ist jedoch schon erstaunlich, dass Black Is Beautiful nun genau das Hype Williams-Album ist, das zumindest ich mir immer gewünscht habe. Natürlich ist das immer noch Lo-Fi-Weirdo-Pop vor dem Herren und ein einziges popkulturelles Sample-Pottpourri, in dem die einzelnen Elemente in dubbigem Rauschen untergehen, aber vor allem in Sachen Percussion und Trackstruktur tut es diesen beiden Know-It-Alls sehr gut, nicht mehr so kategorisch und prätentiös unkonventionell sein zu wollen. So finden sich hier ausformulierte Musicbox-Tributes, vernebelter Shaolin-Pop, kubistischer Slo-Mo-House, ein überzeichneter Juke-Track, den Machinedrum nicht besser hinbekommen hätte und esoterische Interludes. Klingt ein bißchen so, als hätten sich Teengirl Fantasy Max D als Executive Producer für ihr zweites Album gesichert, was in meiner Welt ein großes Kompliment ist.

Kommen wir zu den Erfindern der Drive-Ästhetik, den Italians-Do-It-Better-Zugpferden, den Meistern des unterkühlten Disco-Not-Disco-Popsongs, den wunderbaren Chromatics (screw you, Okraj!). Die haben sich laaaange Zeit gelassen für ihren Nachfolger für das vor fünf Jahren euphorisch aufgenommene Night Drive und leiden nun etwas am Burial-Syndrom: während der Platzhirsch Pause macht, versuchen die Epigonen rasch den Kuchen unter sich aufzuteilen, ein Umstand an dem das Mutterlabel der Band aus Portland nicht ganz unschuldig ist. Ähnlich wie Burial schaffen es aber auch die Chromatics auf Kill For Love unverzichtbar zu bleiben, ohne zu stark mit ihren Gewohnheiten – äh – Stärken, zu brechen.

Fort Romeau
Kingdoms
100% Silk • 2012 • ab 18.99€
Ich stelle gerade fest, dass der April ein guter Monat ist. Auch für Fort Romeau, der – und das sollte man gar nicht laut sagen – sich gewöhnlich seine Brötchen als Keyboarder der rothaarigen Tinnitus-Trulla La Roux verdient, kann ich eine uneingeschränkte Kaufempfehlung aussprechen. Sein Debütalbum für Amanda Browns immer noch omnipräsentes 100% Silk ist gut gemachter House, wie für Silk üblich, mit zahlreichen Verweisen auf die goldene Ära, aber auch mit einem Fuß im aktuellen britischen Dubstep-Gone-House-Happening. Und weil Kingdoms auch noch so ein schönes Artwork hat, solltet ihr jenen Kaufefehl nicht belächeln, sondern ihm Folge leisten.

Nick Anthony Simoncino
The Dream Of Amnesia
Thug • 2012 • ab 29.99€
Verweise reichen Simoncino nicht, er macht den Aphroe und verneigt sich so plakativ vor Mr. Fingers epochalem Werk Amnesia, dass er sich nicht nur Songtitel und Cover zu eigen macht, sondern den Meister selbst abschließend noch zum remixen einlädt. Wäre ich nicht selbst so unfassbar verliebt in Amnesia, ich würde dem jungen Italiener für Dreams Of Amnesia Plagiarismus und mangelnde künstlerische Identität vorwerfen, aber im Grunde hat Larry Heard ein solches Album einmal pro Woche verdient. Und wer mit Mitte 20 bereits analogen Kram im Wert eines Sportwagens bei sich stehen hat, verdient derart böse Worte sowieso nicht.

Dream 2 Science
Dream 2 Science
Rush Hour • 2012 • ab 19.99€
Irgendwie ist der jetzige nicht nur ein guter, sondern auch ein Larry Heard-lastiger Monat, wobei das eine eventuell auch das andere bedingt. Rush Hour jedenfalls macht keine Anstalten seine Archivierungsdienste einzustellen und veröffentlicht mit Dream 2 Sciences gleichnamiger EP aus dem Jahre 1990 eine vergessene Deep House Perle, die klingt als hätte Großmeister Heard mit ihr die Phase zwischen Amnesia und Introduction überbrückt. Liebevolle, sehr musikalische Jack Trax, die innerhalb weniger Takte diese ganzen klebrigen Rhodes-Schmonzetten, mit denen man in den letzten Jahren so exzessiv belästigt wurde, obsolet machen.

Krazy Baldhead
The Noise In The Sky
Ed Banger • 2012 • ab 13.99€
Ganz anders Krazy Baldhead, der mit The Noise In The Sky versucht der anhaltenden Ed Banger-Identitätskrise Einhalt zu gebieten, darin aber nur mäßig erfolgreich ist. Dass dort mittlerweile nicht mehr nur der Hammer kreist, ist zwar bekannt, dennoch wirken diese irgendwo im Niemandsland vor sich hin pluckernden Synth-Grooves seltsam verloren und unschlüssig.

Addison Groove
Transistor Rhythm
50 Weapons • 2012 • ab 4.48€
Auch nicht ganz glücklich macht mich Addison Grooves Transistor Rhythm, was vielleicht auch daran liegt, dass dessen Produktionsansatz nur sehr bedingt albumkompatibel ist und 13 Tracks am Stück schlicht zu viel sind. Ein bißchen Juke hier, zaghafte Electro-Annäherungen da, meist britisch gebrochen – das hätte man auch mit zwei 12"s lösen können, aber die Modeselektoren scheinen Fan des für Tanzmusik bekanntermaßen schwierigsten Formats zu sein.

Rusko
Songs
Mad Decent • 2012 • ab 4.49€
Zu Rusko und Songs sage ich nichts. Echt nicht.

Madonna
MDNA
Polydor • 2012 • ab 34.99€
Zu Madonna und MDNA auch nicht.

Nicki Minaj
Pink Friday: Roman Reloaded
Republic • 2012 • ab 14.39€
Über Nicki Minaj und ihren Pink Friday Revisit kann man hingegen sprechen. Natürlich ist das eine weitgehend ekelerregende Veranstaltung, in der die selbsternannte Barbie furios an Stadionpop und Castingshowpornographie scheitert, aber dass Frollein Minaj durchaus den ein oder anderen feurigen 16er aus ihrem Ersatzteillager pressen kann, ist spätestens seit Monster klar. Beez In The Trap ist außerdem jetzt schon einer der Beats des Jahres und Drake, Nas, Cam’Ron, Rick Ross, Young Jeezy und Lil Wayne auf einem Album zu versammeln, ist auch 2012 keine schlechte Idee. Bevor ich aber nochmal etwas vergleichbar Grausames höre wie Whip It, Automatic oder Beautiful Sinner, lese ich Jorge Gonzalez‘ Diplomarbeit.

Als Rausschmeißer noch etwas aus dem Archiv. Light In The Attic nehmen sich raren und unveröffentlichten Aufnahmen Lee Hazlewoods an. Auch wenn The LHI Years keinen Geniestreich wie Some Velvet Morning beinhaltet: allein für seinen unvergleichlich sleazigen 70s-Machismo muss man Hazlewood einfach gern haben. Es ist genau dieses in Anchorman so hervorragend parodierte, mit dem obligatorischen Schnörres unterstrichene Alphamännchentum, das Hazlewood auch auf diesen weniger bekannten Aufnahmen so unpeinlich verkörpert wie seither kaum mehr jemand. Was Hazlewood selbst jedoch dazu sagen würde, dass ausgerechnet die Generation Zeitartikel ihn so euphorisch adoptiert hat, will ich lieber nicht wissen.